Unter der Blumenbrücke

Martin Leidenfrost über eine brandgefährliche Aktion, das rumänisch-moldawische Verhältnis und den Zauber der Biometrie

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach genau 25 Jahren ist wieder »Blumenbrücke«. Bis dahin voneinander isoliert, haben im Sommer 1990 auf der Eiffelbrücke zwei rumänischsprachige Nationen einander umarmt, Moldawier und Rumänen.

Langes Irren durch Gräser am Stadtrand von Ungheni, zum Grenzfluss runter. Ohne einen alten Unghener fände ich die berühmte Eisenbahnbrücke nicht. Allmählich höre ich eine Menge skandieren: »Ja!« Unter der Grenzbrücke, deren Architekt in Paris einen recht bekannten Turm aufgestellt hat, sind ein paar hundert Moldawier versammelt. Einige in Trachten, einige mit Blumen, alle mit rumänischen Trikoloren.

Nach genau 25 Jahren ist wieder »Blumenbrücke«. Bis dahin voneinander isoliert, haben im Sommer 1990 auf der Eiffelbrücke zwei rumänischsprachige Nationen einander umarmt, Moldawier und Rumänen. Ich folge dem Reenactment der tränenreichen Verbrüderung am moldawischen Ufer des Prut. In Moldawien war bislang nur eine kleine Minderheit für den Anschluss an Rumänien, dank hemmungsloser Räubereien der moldawischen Elite steigt der Zuspruch. Rumänen äußern üblicherweise, was jetzt auch Sprechchöre rufen: »Bessarabien ist rumänische Erde.« Dabei kenne ich keinen Rumänen, der jemals in Moldawien war. Das rumänisch-moldawische Verhältnis spiegelt in gewisser Weise das deutsch-österreichische wieder. Nur dass Österreich nicht von ukrainischen, russischen, gagausischen und bulgarischen Landstrichen zersiebt ist, die Russisch sprechen und einen Anschluss rabiat ablehnen würden. Nur dass eine Mehrheit der deutschsprachigen Österreicher nicht russischen Pop hört und nicht russische Talkshows guckt.

Der moldawische Staat aber ist so locker drauf, dass er eine Hundertschaft Polizisten bereitstellt, um eine Demo für die Auflösung seiner selbst zu ermöglichen. Vor den Gleisen ein Dutzend mobiler Zollschalter, mit den neuen biometrischen Pässen dürfen Moldawier visafrei in die EU. Durch ein Megafon kommt die Ansage: »Wir gehen alle nach Iaşi.« Was, ich soll 20 Kilometer bei Hitze zu einer Demo in eine unwirtliche Großstadt trotten? Ein Beamter bestätigt: »Auf dieser Brücke kommen Sie nicht mehr nach Moldawien zurück.«

Ich plaudere lieber am linken Ufer mit den Unionisten. Eine dürre Kopftuch-Alte will mit erhobener Marien-Ikone passieren, macht doch mehr her als die verfluchte Biometrik. Mehrmals abgewiesen, versucht sie von hinten auf die Brücke zu klettern, über den Zaun. Später hält sie mit spitzen Fingern einen Pfirsich hoch und sucht einen bestechlichen Polizisten in der Phalanx. Irgendwann nimmt einer die Frucht. Die Alte wird aber abgeführt und ruft: »Stellt mich nur vor Gericht!« Ein Alter erzählt mir mit Atemnot, dass er unter moldawischen Deportierten geboren wurde, in der sibirischen Tundra, minus 40 Grad. Er betont, dass die Russen »ein würdiges Volk« seien, »nur ihr Staat … In meinem Dorf gab's viele Feinde.« - »Feinde von was? Der Sowjets?« - »Ja«, ruft er, als hätte ich ihm das lang vermisste Wort eingeflüstert, »ich bin ein Feind der Sowjets!«

Der Großteil der Marschierer gehört gut organisierten Jugendgruppen an, fast alle aus Kischinau oder Călăraşi. Mich aber bewegt ein gebücktes, hässliches, schäbig gekleidetes Mädchen. Die Abiturientin aus Edineţ sagt: »Ich verlasse heute das erste Mal Moldawien.« Sie behauptet auch, sie sei mit Freunden da, ich sehe aber keinen. Ihr rechter Fuß steckt in einem Verband, der ausgelatschte Schuh hängt dran. »Hingefallen«, sagt sie und senkt den Blick. Sie kann nur auf der Ferse gehen, ihr ganzer Fuß zittert. »So wollen Sie 20 Kilometer gehen?« Sie nickt heftig, senkt wieder den Blick. Nun, da sie die Biometrik hat, will sie in Cluj Journalismus studieren. Mir zieht es das Herz zusammen.

Am Ende stehe ich unter der Eiffelbrücke. Ich sehe die Demonstranten am rumänischen Ufer in einem Rechteck stehen und höre die Rede des rumänischen Organisators George Simion. Später wird er mir antworten: »Von einer Enklavisierung oder Aufteilung dieses Territoriums, das von allen internationalen Organisationen anerkannt ist, kann keine Rede sein. Wir schlagen eine Vereinigung auf friedlichem Wege vor, durch den Willen der Bevölkerungsmehrheit. Ich bin überzeugt, dass wir in ein, zwei Jahren einem solchen Mehrheitswillen nahekommen.«

Am Ende verscheucht mich die Polizei auch vom Fluss. Ich stelle mir die Abiturientin aus Edineţ vor. Wie sie jeder Schritt schmerzt. Wie sie rumänische Erde betritt, wie vielleicht ein Rumäne sie umarmt, wie er ihr vielleicht eine Blume ins Haar steckt, das einzige Mal in ihrem Leben. Dann war die brandgefährliche Aktion doch für was gut.

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