Angekommen im neuen Diepensee
Ein Dorf siedelte um - wegen des Hauptstadtflughafens BER
Im Keller des Dorfgemeinschaftshauses Diepensee spielen Senioren Bowling, im Saal turnen später junge Männer und Frauen zu Musik. Donnerstags trifft sich der Skatverein. Seine Pokale zeigt er in einer Vitrine. In einer anderen Vitrine bietet die Gruppe »Kreatives Gestalten« selbst gebastelten Schmuck und individuell verzierte Glückwunschkarten zum Kauf an. Diese Gruppe versammelt sich alle zwei Wochen an einem Mittwoch im Dorfgemeinschaftshaus.
Im Foyer stellt Heike Gleißner Landschaftsfotos aus. Die 22 Aufnahmen hat sie im Urlaub gemacht, in den schönsten Gegenden Deutschlands - von der Steilküste auf der Insel Rügen über den Thüringer Wald bis zu den Chiemgauer Alpen. Mittendrin hängt ein Bild von einem Sonnenuntergang in Diepensee, als wolle es dem Betrachter sagen: Es gibt viele schöne Flecken, aber genauso schön und vielleicht am schönsten ist es doch zu Hause.
»Wir sind angekommen«, sagt froh und zufrieden Heike Gleißners Mann Michael - und er meint damit nicht nur die eigene Familie. So wie er denken 99,9 Prozent der Einwohner von Diepensee, versichert er. Vor elf Jahren wurde das Dorf im Landkreis Dahme-Spreewald umgesiedelt. Es stand zu nah am künftigen Hauptstadtairport BER in Schönefeld. Als 1996 die politische Entscheidung fiel, anstatt des vormaligen sowjetischen Militärflugplatzes Sperenberg (Teltow-Fläming) den alten DDR-Zentralflughafen Schönefeld zum neuen Hauptstadtflughafen auszubauen, da seien sich die Leute schnell einig gewesen, »unter diesen Bedingungen wollen wir nicht leben«, erinnert sich Helmut Mayer, der vor Gleißner Ortsvorsteher gewesen ist. Mehr als 90 Prozent der Dorfbewohner teilten diese Ansicht und weniger als vier Prozent wollten ausharren.
Diepensee kämpfte darum, dass schnell Klarheit über die Zukunft herrscht und der Umzug zügig vonstatten geht. Eine jahrelange Hängepartie war eine Horrorvorstellung, aber alles brauchte seine Zeit. 2003 konnten die ersten Einwohner ins neue Diepensee umsiedeln, das als Ortsteil der Stadt Königs Wusterhausen bei Deutsch Wusterhausen entstand.
2004 waren insgesamt 334 Einwohner vom alten ins neue Diepensee umgezogen. Einige orientierten sich auch anders. Zwölf Standorte waren zuvor ins Auge gefasst worden, vier davon kamen in die engere Wahl. Ende 1998 entfielen bei einer Abstimmung 147 von 228 Stimmen auf Deutsch Wusterhausen und 76 auf Kiekebusch. Die Familie Gleißner war damals für Kiekebusch, weil sie sich ein neues Heim möglichst nahe am alten erträumte. »Bloß gut, dass daraus nichts geworden ist«, schmunzelt Michael Gleißner heute. Die Vorteile von Deutsch Wusterhausen, die der alte Ortsvorsteher Mayer bereits damals deutlich erkannte, haben inzwischen auch Michael Gleißner überzeugt.
Zwei Einkaufsmärkte sind fußläufig erreichbar, der Bahnhof Königs Wusterhausen liegt nur drei Kilometer entfernt und zwei Autobahnauffahrten sind in wenigen Minuten erreichbar. »Mein Sohn hat an der Technischen Hochschule Wildau studiert«, sagt Michael Gleißner. Wildau liegt jetzt nur eine S-Bahn-Station entfernt. Von Kiekebusch wäre die Fahrt dorthin komplizierter gewesen.
Im neuen Diepensee gibt es mehrere kleine Blocks und einige Doppel- und Reihenhäuser zur Miete und außerdem Eigenheime. Jeder habe wieder das bekommen, was er hatte, erklärt Mayer. Aber mit mehr Komfort. So habe es in den alten Wohnblocks Öfen gegeben. Die Mieter hätten Kohlen schleppen müssen. Nun seien ihre Quartiere mit Zentralheizungen ausgestattet. »Alle haben sich verbessert, die Mieter und die Eigentümer«, gibt Mayer bereitwillig zu.
Protzig ist das neue Diepensee nicht. Es stehen dort keine Villen. Aber schön sind sie doch, die Eigenheime und Mietshäuser - und sie sind alle nicht älter als zwölf Jahre, also zwangsläufig noch ausgezeichnet in Schuss. Es gibt kaum ein Dorf in Brandenburg dieser Art, abgesehen von Horno in der Lausitz, das wegen des Braunkohletagebaus Jänschwalde umgesiedelt wurde. Dort bezahlte dies der Energiekonzern Vattenfall, hier war es die Flughafengesellschaft. Das schmucke Dorfgemeinschaftshaus, die schicke Grünanlage mit Brücke und Teich, die evangelische Kita »Arche Noah« und der Rest von Diepensee sorgt für so manchen neidischen Blick von Besuchern aus den Nachbarorten.
Darauf angesprochen, wird der 53-jährige Ortsvorsteher Gleißner prinzipiell: »Ich bin der Meinung, dass die Diepenseer das verdient haben. Wer seine Heimat aufgibt, der hat einen vernünftigen neuen Wortort verdient.« Schließlich habe nicht jeder die Umsiedlung überlebt. Man denke an die Volksweisheit: »Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr.« Auch wenn sich der direkte Zusammenhang nicht beweisen lasse - drei Monate nach dem Umzug sei ein altes Ehepaar tot gewesen. »Und sie haben sich so gefreut, dass sie den Stress hinter sich haben«, ergänzt Mayer.
Besonders für die alten Menschen sei es in den ersten Jahren sehr schwer gewesen, sich im neuen Diepensee einzugewöhnen, sagt der parteilose Gleißner, der bei der Kommunalwahl 2014 auf der Liste der SPD für die Stadtverordnetenversammlung von Königs Wusterhausen kandidierte. Doch inzwischen haben sich seiner Einschätzung nach alle eingelebt.
Natürlich hängen am alten und längst vollständig abgerissenen Diepensee Kindheitserinnerungen. Darum versuchten die Einwohner, so viele Erinnerungsstücke wie möglich mitzunehmen. Ins Dorfgemeinschaftshaus sind Ziegelsteine aus alten Landarbeiterkasernen verbaut. An einer Wand hängen Straßenschilder wie Karl-Marx-Straße und Goethestraße. Die durften wegen Verwechslungsgefahr nicht wieder verwendet werden, weil es solche Straßen in Königs Wusterhausen bereits gab. Als einzige Bezeichnung überlebte nur die Rotberger Straße.
304 Einwohner zählt Diepensee heute. Allein 36 sind in den vergangenen elf Jahren verstorben. Es gibt aber auch einige Zuzügler, die inzwischen gut in die Dorfgemeinschaft integriert sind, wie Gleißner findet. Wie in jedem Dorf zu jeder Zeit hätte es auch im alten Diepensee Zuzüge und Wegzüge gegeben. Warum also nicht im neuen Diepensee.
Der Dorffriedhof ist mit umgezogen, die Gebeine wurden umgebettet. Auf vielen Grabsteinen stehen heute Sterbedaten vor und nach 2003/2004 - wenn der Mann beispielsweise 1994 das Zeitliche segnete und die Ehefrau erst 2013.
Für Kopfschütteln sorgte 2011, dass ausgerechnet auch das neue Diepensee von Fluglärm bedroht sein soll. Durch plötzlich ganz andere Flugrouten als vorher gedacht wäre der Ort von Maschinen in geringerer Höhe überflogen worden als zuvor zugesichert. Doch Gleißner und Mayer haben entschieden, sich darüber nicht jahrelang den Kopf zu zerbrechen. Erst einmal abwarten, wann der BER überhaupt eröffnet und wie es dann wirklich ist, lautet ihre Devise. Wenn es anders kommen sollte, als den Diepenseern bei der Umsiedlung versprochen, dann werde man sich zu wehren wissen.
Nächste Woche: Ludwigsfelde
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