IS-Vormarsch ins Machtvakuum

Auch in Libyen sorgen dschihadistische Milizen für Angst und Schrecken

  • Mirco Keilberth,Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.
Die USA, Deutschland und weitere EU-Länder haben das »barbarische« Vorgehen der IS-Miliz in Sirte verurteilt. Die Dschihadisten hatten die libysche Küstenstadt in diesem Sommer erobert.

Den triumphalen Gesichtsausdruck des mit Munitionsgürteln behängten Anführers Hassan al-Karami kann man nur erahnen. Bilder des maskierten Anführers des Islamischen Staates (IS) in Sirte, der neben Mitkämpfern vor Raketenwerfern, mit Munition beladenen Jeeps und entstellten Leichen posiert, sorgen in Libyen für Angst und Schrecken. Geköpfte und gekreuzigte Anhänger einer Bürgerwehr des 3. Bezirks waren von den meist aus Ostlibyen und arabischen Nachbarländern kommenden IS-Kämpfern zur Abschreckung auf einem Marktplatz der 140 000-Einwohner-Stadt ausgestellt worden.

Die brutalen Szenen der blutigen Niederschlagung eines Bürgeraufstandes in der zentrallibyschen Hafenstadt versetzen aber wohl auch Europas Sicherheitsbehörden in Alarm. Vor drei Monaten hielt der nordafrikanische Ableger des IS in der Hochburg des 2011 getöteten Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi nur einige strategische Positionen besetzt. Nach der Einnahme auch der letzten Stadtviertel am Wochenende ist für die Extremisten nun der Weg zu der ölreichsten Region Libyens frei, dem so genannten Ölhalbmond im Sirte-Becken.

Nach Augenzeugenberichten bezahlten bis zu 200 Menschen ihren Protest gegen die Gotteskrieger mit dem Leben. Auslöser war der Mord an dem IS-kritischen Imam Khalid bin Rajab Ferjani am vergangenen Dienstag. Premierminister Abdullah Thinni von der in Bengasi residierenden vom Westen anerkannten Regierung will nun auf der am heutigen Dienstag stattfindenden Sondersitzung der Arabischen Liga eine Allianz von Mitgliedstaaten gegen den die »Mörder« des IS schmieden.

Die Milizen der konkurrierenden Regierungen in Libyen scheuen nach einem Jahr Bürgerkrieg die direkte militärische Auseinandersetzung mit den zahlenmäßig unterlegenen Extremisten. Truppen aus Tripolis waren nach mehreren Selbstmordattentaten im Juni aus Sirte geflohen und haben dem IS damit 160 Kilometer Mittelmeerküste überlassen. Auch ohne abgestecktes Gebiet könnte der Islamische Staat damit schon bald neben den beiden »Regierungen« in Bengasi und Tripolis eine dritte Entität zwischen Mittelmeer und sudanesischer Grenze bilden.

»Von Sirte aus arbeitet die IS-Strategen aus Syrien an einem Nordafrika-Netzwerk. Sie versuchen erst einmal, unter perspektivlosen jungen Libyern, Tunesiern und Ägyptern Anhänger zu gewinnen«, glaubt ein Geheimdienstoffizier aus der Küstenstadt Misrata, der seinen Namen nicht nennen möchte. »Statt an kompakten Gebieten wie in Syrien sind die IS-Strategen in Libyen eher an Routen und weiterem Chaos interessiert.« Verstärkt wird die landesweit auf 5000 Mann geschätzte Gruppe von kampferprobten Syrienrückkehrern, die über türkische Häfen in kleinen Fischerbooten über das Mittelmeer nach Sirte gelangen. Die meisten vom Stamme der Ferjani unterstützen Armeegeneral Khalifa Hafter gegen die so genannte Shura-Allianz aus IS und anderen islamistischen Milizen. Bei diesen Kämpfen wurde die Innenstadt von Libyens Zweitmetropole Bengasi schwer zerstört.

»Lange glaubten viele Libyen-Experten, der IS könne sich in der von Stammessolidarität geprägten libyschen Gesellschaft nur begrenzt ausbreiten. Doch mit dem wirtschaftlichen Absturz des Landes finden immer mehr junge Männer aus ganz Nordafrika bei den Extremisten das, was ihnen die Gesellschaft nicht mehr bieten kann: ein wirtschaftliches Auskommen und Zusammengehörigkeitsgefühl«, so der Geheimdienstmann aus Misrata. Langsam wird auch den ultrakonservativen Kräfte Libyens klar, dass sie die junge Konkurrenz aus dem eigenen ideologischen Lager unterschätzt haben.

Nun rächt sich wie in Irak die Politik der Ausgrenzung. Unter den vor Gaddafis Sturz ins Ausland geflohenen jungen Männer finden die Werber des IS besonders viele Freiwillige. Vielen ist es egal, unter welcher Flagge sie gegen die neuen Machthaber aus Tripolis kämpfen.

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