Der Abrüster
Egon Bahr ist tot: Tom Strohschneider über einen großen Sozialdemokraten, Ostpolitiker und linken Geist
Es ging ihm wie vielen Politikern nach dem Ende ihrer aktiven Karriere: Er sah die Welt noch ein bisschen schärfer, war noch klarer in der Überzeugung, dass es so nicht weitergehen könne. Ohne die Fesseln von Ämtern, ohne die einengenden Sprechdisziplinen des Geschäfts formulierte Egon Bahr manches noch ein bisschen deutlicher.
Dabei hatte der Sozialdemokrat ohnehin nie zu denen gehört, die sich zurückhalten. Am Beginn seines politischen Lebens war er – auch in Selbstauskunft – ein Kalter Krieger. Doch dann wurde er der Erfinder der Entspannungspolitik. Er erinnere sich, sagte Bahr vor nicht einmal einem Jahr im Gespräch mit dieser Zeitung, »dass Brandt über sich selbst sagte: ‘Je älter ich werde, um so linker werde ich.’ Wenn ich sehe, wohin dieser Kapitalismus treibt, habe ich das Gefühl, dass es bei mir ähnlich ist.«
1956: Über den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, gelangt der Journalist Bahr zur SPD.
1963: Bahr stellt das Konzept »Wandel durch Annäherung« vor.
1966: Brandt wird in der Großen Koalition Außenminister, Bahr geht als Sonderbotschafter in das Auswärtige Amt in Bonn.
1969: Bahr arbeitet im Kanzleramt dem ersten SPD-Kanzler Brandt zu. Mit Moskau und Warschau verhandelt er über Verträge zu einem Gewaltverzicht und einer Normalisierung der Beziehungen. Er sucht zudem die Annäherung an die DDR, um das deutsch-deutsche Verhältnis zu verbessern, unter anderem wird ein Transitabkommen geschlossen.
1972: Bahr wird Bundesminister für besondere Aufgaben und setzt vor allem Brandts neue Ost - und Deutschlandpolitik fort.
1974: Der größte Tiefschlag ist Brandts Rücktritt nach der Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume im Kanzleramt. Dennoch wird er wenig später im Juli unter Nachfolger Helmut Schmidt noch einmal Minister, für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
1976: Nach der Wahl scheidet er aus dem Kabinett aus. Er wird zunächst SPD-Bundesgeschäftsführer. Sein großes Thema bleibt aber die Abrüstungs- und Friedenspolitik. dpa/nd
Brandt, das war der andere Bahr, der eine ohne den anderen nicht zu denken. Bahr war seit 1956 Mitglied in der SPD, bald wurde der gebürtige Treffurter auch engster Mitarbeiter von Brandt, später dessen Freund: Zunächst als Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Westberlin Anfang der 1960er Jahre unter dem Regierenden Bürgermeister Brandt, in der zweiten Hälften der 1960er Jahre als Leiter des Planungsstabes unter dem Außenminister Brandt.
Auf Bahr gehen zwei Grundprinzipien der sozialliberalen Ostpolitik zurück: der »Wandel durch Annäherung« und die »Politik der kleinen Schritte«. Die verbindende Brücke der Praxis könnte man Abrüstung nennen. Abrüstung im militärischen Sinne als Ziel, Abrüstung politisch und rhetorisch, weil ohne dies das Ziel nicht zu erreichen ist.
Bahr war Unterhändler zwischen den Weltsystemen, sprach als Mann des Westens mit den Autoritäten in Moskau und Ost-Berlin. Und das trotz der Verachtung, die ihm entgegenschlug, wenn man ihn als »Vaterlandsverräter« (West) oder Aggressor »auf Filzlatschen« (Ost) bezeichnete, mit Erfolg: Moskauer Vertrag, Warschauer Vertrag, Transitabkommen und Grundlagenvertrag tragen nicht zuletzt die Handschrift von Bahr. Es war Papier, das Sicherheit in einer Zeit stiften sollte, in der die Lunten kurz und die Gefahr von Missverständnissen groß waren.
Dass Bahr und Brandt eine enge politische Freundschaft verband, war das eine. Das andere war, dass Bahr, der bei Borsig in Berlin Industriekaufmann gelernt hatte und dann zur Wehrmacht eingezogen worden war, es nicht ertragen konnte, wenn jemand Freundschaft nur heuchelte.
Legendär die Szene im Bonner Bundestag, als im Mai 1974 ausgerechnet Herbert Wehner, damals Fraktionschef der SPD, Brandts soeben erfolgten Rücktritt mit den Worten kommentierte: »Willy, du weißt, wir alle lieben dich.« Bahr stürzte in einen Weinkrampf – vor diesem unfassbaren Gipfel von Heuchelei, wie er es später formulierte. Wehner, so glaubte Bahr, hatte auf Brandts Rücktritt gehofft, seinen Sturz wohl auch mitbetrieben.
Was hätte Bahr über Worte gedacht, die ihm jetzt nachgerufen werden? Zum Beispiel von Sigmar Gabriel, der ihn als »den Architekten der deutschen Einheit, Friedenspolitiker und Europäer« würdigte – das erste ist Bahr nicht gewesen, weil es ihm nicht um Kohls Deutschland ging, gegen das zweite ist die Realpolitik der gegenwärtigen SPD gerichtet, die wohl auch deshalb, Bahr hatte es immer einmal wieder durchblicken lassen, politisch nicht mehr so viel Gewicht auf die Waage bringt.
1990 hatte die SPD bei der Bundestagswahl – unter den nicht gerade günstigen Bedingungen von nationalistischer Einheitseuphorie und einem wiedervereinigungsskeptischen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontane - immerhin noch 33 Prozent. Es war das letzte Jahr, in dem Egon Bahr für die SPD im Parlament saß. Unvergessen seine etwas knarzige und doch melodische Stimme, seine so präsente Mischung aus engagiertem Geist und bedächtiger Gelassenheit. Bahr war zu klug, um sich von der Aufgeladenheit des Augenblicks mitreißen zu lassen – und zu politisch, um nicht in jeder noch so kleinen Bewegung die Chance auf größere Veränderung zu sehen.
Anfang der 1980er Jahre wurde, kein Zufall für einen Mann, dessen politisches Leben zwischen den Systemblöcken verlief, die Frage der Abrüstung zu einem zentralen Lebenspunkt. Er führte den Unterausschuss des Parlaments für Abrüstung und Rüstungskontrolle an, wurde Mitglied der »Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit« unter Olof Palme. Die »Common Security«, so der Titel eines Berichtes, den die Kommission 1982 veröffentlichte, bliebt so etwas wie die offene Wunde Bahrs: Immerzu, unaufhörlich, bis zuletzt vermaß, diskutierte, suchte er Wege, eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa und der Welt zu etablieren.
Deutschland als Zivilmacht, das konnte für Bahr eine Vision sein. Und er wäre wegen einer solchen nie zum Arzt gegangen, sondern hat sich – mal politisch, mal wissenschaftlich wie zwischen 1984 und 1994 als Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg - dafür eingesetzt.
Die Größe Bahrs bestand nicht zuletzt darin, sich eine eigene Meinung stets auch dann noch erlaubt zu haben, wenn dies schon schwierig geworden war in einer Welt, in der man besser mit der Herde läuft. Im Ukraine-Konflikt konnte er zwischen der nötigen und scharfen Kritik an Russland und der Notwendigkeit, dennoch die Mitverantwortung des Westens für die Eskalation zu benennen, unterscheiden – und beides denken, nicht als gegeneinander gerichtete Positionen von platter Putin-Versteherei und naiver Maidan-Begeisterung, sondern mit dem Blick eines Mannes, den die Kompliziertheit, auch die Tragödien der Weltgeschichte zu einem scharfen Beobachter und bedachten Kommentator gemacht haben: Es ist halt manchmal schwieriger, als es aussieht.
Vor wenigen Wochen noch gehörte er zu den Unterzeichnern einer Erklärung von Sozialdemokraten, die eine Abkehr von der Konfrontationspolitik gegenüber Russland forderten. Der Krieg in der und um die Ukraine könne in eine Katastrophe münden, »wenn sich die bereits drehende Spirale des Wettrüstens, der militärischen Provokationen und konfrontativen Rhetorik nicht gestoppt wird«, hieß es darin – ganz im Geiste von Bahr. Denn zur Entspannung gehörte immer auch die Überzeugung, dass man auch dann noch reden, verhandeln muss, wenn es längst so scheint, als gebe es für ein Gespräch weniger Grundlage als für die Benutzung eines Gewehrs.
Weiterreden, weiterverhandeln – das war immer Bahrs Devise. Er war in jeder Beziehung ein Abrüster. Weil man den anderen nicht hören kann, wenn zu laut gerasselt wird. Vielleicht verdankt er seinen besonderen Blick auf die Welt, auf deren Konflikte, auf die zunächst so schier unveränderlich erscheinende Falschheit des Bestehenden, das mit träumerischen Utopien allein nicht zu bezwingen ist, sondern nur mit der Hartnäckigkeit, der Ausdauer des politischen Bearbeitens, vielleicht verdankt er dies auch seiner Biografie als Journalist. Bahr arbeitete bei der Berliner und der Allgemeinen Zeitung, später auch beim Tagesspiegel, war in den 1950er Jahren beim Westberliner Rias – und absolvierte den Übergang vom Journalismus zur Politik als Presseattaché der bundesdeutschen Botschaft in Ghana.
In den letzten zehn, fünfzehn Jahren gehörte Bahr zu den Sozialdemokraten, die sich einer so einfachen wie von den meisten seiner Genossen vergessenen Haltung verpflichtet fühlten: dass es nicht ein Problem, sondern ein Ausdruck von Normalität ist, wenn es links der SPD noch Parteien gibt. Auch hier das Motto: Abrüstung, nun verbal und in der Parteienauseinandersetzung.
Bahr fand das KPD-Verbot von 1956 falsch, »weil man zwar eine Partei verbieten kann, aber den Menschen nicht ihre Überzeugungen. Und warum sollte diese Bundesrepublik Deutschland in der Mitte Europas das einzige Land auf dem Kontinent sein oder bleiben, das nicht auch am linken Rand eine eigene Partei hat?« Bahr fand es unverständlich in dem Sinne, in dem selbst der Klügste noch dazu gebracht wird, sich zu wundern, wenn einer wie Bundespräsident Joachim Gauck eine demokratische Wahl wie jene in Thüringen nicht zu akzeptieren schien: Ein Linker als Ministerpräsident, na und?
Bahr ging sogar noch weiter, für ihn war das nicht nur eine Frage der Duldung, sondern eine der Selbstverständlichkeit. Er sagte es einmal mit einer Anekdote: Als der norwegische Monarch nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Exil zurück gekommen sei, habe dieser verkündet, er sei »auch der König der Kommunisten«. Als Gauck gewählt war, hätte er nach Bahrs Überzeugung zumindest sagen müssen: »Ich bin auch der Bundespräsident der Linken.«
Bahr wäre ein Bundespräsident auch der Linken gewesen. Er war zu klug, in einem wirklichen Sinne zu überparteilich, zu links wohl auch, als dass man ihm so ein Amt je angetragen hätte. Nun ist Egon Bahr im Alter von 93 Jahren gestorben. Ein großer Vermittler zwischen den Unversöhnlichen, einer mit einem großen Herz und großem Humor, ein großer Sozialdemokrat. Er wird fehlen.
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