Autobahn weicht Bocksriemenzunge
Bei Jena gibt es das artenreichste Orchideengebiet Deutschlands - die Biologin Helga Dietrich ist dort zu Hause
Im thüringischen Leutratal bei Jena, dem artenreichsten Orchideengebiet in Deutschland, wird gerade die ehemalige Trasse der Bundesautobahn 4 mit Parkplätzen, Brücken und Unterführungen zurückgebaut. Damit verschwindet die Zerschneidung des Areals, die seit den 1930er Jahren existierte. In die Wiederbesiedlung greift der Mensch nicht ein, sie bleibt der Natur überlassen. »Was hier entsteht«, erklärt die Biologin Helga Dietrich, »ruft jetzt schon großes Interesse unter Wissenschaftlern hervor«. Die Pflanzen- und Tierwelt, die sich bald frei entwickeln kann, wird von Ökologen und Botanikern der Jenaer Universität in einer Langzeitstudie beobachtet.
Nach 1990 hofften die Biologin und viele ihrer Kollegen aus dem Naturschutz darauf, dass das Biotop durch den Bau eines Autobahntunnels entlastet werden könnte. Mit dem Verein »Blühendes Leutratal« setzten sie sich gegen alle Widerstände durch, die vor allem aus den benachbarten Orten kamen. Seit Herbst 2014 ist der Tunnel für den Verkehr freigegeben.
27 Orchideenarten blühen im Mai und Juni auf den Wiesen des Leutratales, darunter Seltenheiten wie die Bocksriemenzunge. Es sind aber auch die Trocken- und Halbtrockenrasengesellschaften, die als Vegetationseinheit inzwischen bedroht sind. Durch den Weinbau, der vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert an den Kalkhängen betrieben wurde, kamen aus südlichen Ländern Pflanzen in das Mittlere Saaletal, die bis heute nachweisbar sind. »Die Osterluzei ist ein Beispiel dafür«, erzählt die Biologin Dietrich. »Im Mittelalter hatte sie große Bedeutung als Gebärwurz. Doch heute wird sie wegen ihrer Giftigkeit nicht mehr genutzt.«
Vor wenigen Monaten erschien das über 800 Seiten starke Standardwerk »Thüringens Orchideen«, an dem Helga Dietrich zusammen mit weiteren Autoren vom Arbeitskreis Heimische Orchideen (AHO) sieben Jahre lang gearbeitet hat. Darin sind nicht nur die 52 Orchideenarten und ihre Lebensräume beschrieben, es geht auch um Bestandsentwicklung, um die Ökologie sowie um die Nutzung und Pflege der Biotope. »So ein Buch wird es nicht gleich wieder geben, weil der Nachwuchs im Arbeitskreis fehlt«, konstatiert die engagierte Biologin nüchtern. »Mich fasziniert bei den Orchideen, dass man in dieser Familie die Evolution verfolgen kann. Noch heute vollzieht sich hier Artbildung.« Dabei handelt es sich nicht um eine sehr junge Pflanzenfamilie, wie oft behauptet, sondern um eine nach Schätzungen mindestens 100 Millionen Jahre alte. Auch der berühmte Naturforscher Charles Darwin sprach vom »Wunder der Evolution«: »Orchideen haben mich mehr interessiert, als fast alles andere in meinem Leben.«
Helga Dietrich beschäftigt sich nicht nur mit einheimischen Orchideen. Auf zahlreichen Studienreisen nach Kuba hat sie mit an der Erkundung der dortigen Flora gearbeitet und zahlreiche Neuentdeckungen in der Fachliteratur beschrieben. Im Botanischen Garten in Jena, den Dietrich leitete, konnte sie mitgebrachte Arten kultivieren und intensiv beobachten. Die Ergebnisse dieser Forschungen veröffentlichte sie mit Detailzeichnungen von Berthold Möbus in einem Buch.
»Inzwischen interessieren sich auch die Genetiker für dieses Gebiet«, freut sich die Orchideen-Expertin. Sie ist überzeugt davon, dass die Orchideen zukünftig eine große Rolle in Bereichen spielen werden, wo derzeit und mit den heutigen Methoden kaum Messergebnisse erzielt werden. Dabei denkt die Biologin zum Beispiel an die Homöopathie. »Bis zu acht Kilometer weit können Bestäuber den Duft der Pflanzen wahrnehmen«, erklärt Dietrich das Phänomen, dass Insekten offenbar feinste Duftmoleküle aufspüren, die mit der heutigen Technik nicht erfassbar sind. Darin liegt auch viel wissenschaftliches Potenzial.
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