Mal ’ne Birne übern Zaun
Bundesinnenminister freut sich über Frieden in Friedland
Es ist kühl an diesem Dienstagmorgen, ein kräftiger Wind treibt dicke graue Wolken über das Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen. Vor dem Verwaltungstrakt drängen sich mehrere hundert Flüchtlinge. Einige haben sich Bettdecken und Schlafsäcke um die Schultern gehängt, andere rauchen. Ein Kind schreit.
»Es gibt nur diese eine Tür nach drinnen«, sagt ein junger Mann, der sich als Ali vorstellt und aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet ist. Da drinnen befinden sich die Büros des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen und anderer Ämter. Seit Ali vor zwölf Tagen in Friedland ankam, steht er jeden Tag mehrere Stunden vor dieser Tür. Bislang ist er nicht zu einem Gespräch oder einer Anhörung aufgerufen worden. Nur eine kleine rosafarbene Pappkarte hat er bekommen. »15. Oktober«, steht darauf. Was dann passiert? Ali weiß es nicht.
Das Lager Friedland ist eine von derzeit vier Erstaufnahmen in Niedersachsen für Asylsuchende. Die Einrichtung ist völlig überfüllt. Eigentlich gibt es hier nur Platz für 700 Menschen. Derzeit werden 3000 untergebracht und versorgt, sagt Lagerleiter Heinrich Hörnschemeyer.
Flüchtlinge müssen auf Fluren und in Gemeinschaftsräumen schlafen, Hunderte auch in Zelten. Weitere 600 Asylbewerber wurden in zwei Turnhallen und ein leer stehendes Hotel im Kreis Göttingen ausquartiert. Beim Schlangestehen für das Mittagessen gab es in den vergangenen Tagen mehrfach Rangeleien. Der Speisesaal fasst etwa 400 Personen. »Bis alle durch sind, dauert das eben zwei Stunden«, sagte Hörnschemeyer. »Hut ab, dass da bisher noch nicht mehr passiert ist.«
Trotz drangvoller Enge und weiter steigender Flüchtlingszahlen stehe Friedland »für eine andere Form der Aufnahme«, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Der CDU-Politiker besucht an diesem Tag erstmals das Lager. »Hier gibt es Aufnahmebereitschaft, Toleranz und auch keine erhöhte Kriminalität.« Letzteres hat ihm wenige Minuten vorher Friedlands Bürgermeister Andreas Friedrichs verraten: »Hier wird mal übern Zaun eine Birne gepflückt. Aber das sehen wir nicht als Kriminalität, sondern als Spende.«
An der Grenze von drei Besatzungszonen gelegen, wurde das Lager im September 1945 auf Anordnung der britischen Armee als erste Anlaufstelle für Flüchtlinge und Vertriebene in Deutschland eingerichtet. In den folgenden Jahrzehnten kamen neben den heimkehrenden deutschen Kriegsgefangenen auch Spätaussiedler sowie Flüchtlinge aus zahlreichen Ländern in Friedland an. Insgesamt haben rund 4,5 Millionen Menschen das von Politikern oft sogenannte »Tor zur Freiheit« passiert.
Bei seinem Rundgang durch das Lager schaut de Maizière auch in einem der sogenannten Wegweiserkurse vorbei. In einem der wenigen nicht mit Betten vollgestellten Räume sitzen Frauen, Jugendliche und ein paar Kinder um einen Tisch herum. »Diese Kurse dauern eine Woche und bestehen aus ein bisschen Sprachunterricht, ein bisschen Landeskunde und Alltagstipps«, sagt Lagerleiter Hörnschemeyer.
Vor Journalisten kündigt de Maizière (CDU) verstärkte Anstrengungen der Politik an, um den Herausforderungen des Flüchtlingszuzugs zu begegnen. »Jetzt ist Zeit für einen Schulterschluss«, sagt er. Bereits in dieser Woche werde ein gemeinsamer Stab von Bund und Ländern eingerichtet, der die anstehenden Aufgaben koordinieren solle. Im September gebe es Entscheidungen über die künftige Finanzierung der Unterbringung und Versorgung von Asylsuchenden. Zudem müssten Verwaltungsabläufe gestrafft und die Asylverfahren beschleunigt werden.
Der Minister verwahrt sich gegen Vorwürfe, die Bundesregierung habe nicht rechtzeitig auf die stark steigenden Flüchtlingszahlen reagiert. Ein Anstieg der Zahlen in diesem Ausmaß sei bis vor kurzem nicht absehbar gewesen, sagte er. Das Innenministerium hatte vor wenigen Tagen prognostiziert, dass in diesem Jahr bis zu 800 000 Menschen in Deutschland Asyl beantragen könnten. »Wir müssen uns auf längere Zeit auf hohe Flüchtlingszahlen einstellen«, betont de Maizière.
Auf seiner Runde durch das Lager hat er inzwischen die Nissenhütte erreicht. Die nach einem kanadischen Offizier benannten Behausungen mit den markanten halbrunden Wellblechdächern dienten vor 70 Jahren den ersten Flüchtlingen in Friedland als Behausung. Die einzige noch stehende Hütte beherbergt eine kleine Ausstellung zur Frühzeit des Lagers.
Die Fotos zeigen ausgemergelte Gestalten, die durch Schlamm und Schnee stapfen. In Vitrinen liegen angegilbte Entlassungs- und Registrierscheine. Die Bilder und Exponate sollen Bestandteile eines zeitgeschichtlichen Museums Friedland werden. Niedersachsen will dafür insgesamt rund 20 Millionen Euro investieren. Zurzeit wird der historische Friedländer Bahnhof aus dem Jahr 1890 zum Ausstellungsort umgebaut, später soll ein Museumspfad andere Einrichtungen im Lager miteinander verbinden. Die Eröffnung des Museums ist für Anfang 2016 geplant.
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