Mittelschicht wird abgeschafft
Untere Einkommen haben meist zu wenig Arbeit
Einst galt die soziale Marktwirtschaft als Garant für eine starke Mittelschicht und sozialen Frieden hierzulande. Doch diese Aufgabe wird vom Staat immer weniger erbracht. Denn die Mittelschicht gerät hierzulande immer stärker unter Druck, wie eine neue Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen zeigt. Ein gewichtiger Grund für diese Entwicklung ist den Forschern zufolge vor allem auch die Unterbeschäftigung bei Geringverdienern.
In den letzten beiden Jahrzehnten ist nämlich der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Einkommen um über acht Prozent gesunken - von 56,4 Prozent im Jahr 1992 auf 48 Prozent im Jahr 2013, wie die Autoren der Studie, Gerhard Bosch und Thorsten Kalina, berechneten. Dabei zählen sie all jene Haushalte zur Mittelschicht, die zwischen 60 und 200 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben.
Dieses Medianeinkommen ist das Einkommen, das die Gesellschaft in zwei Hälften teilt: Die eine Hälfte hat mehr, die andere hat weniger. Laut Statistischem Bundesamt belief sich das mittlere Einkommen vor Steuern und Transferleistungen im Jahr 2013 auf 35 168 Euro. Wer weniger als 60 Prozent dieses mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt in der Regel als arm. Wer nach Ansicht der IAQ-Forscher zur Einkommensunterschicht gehört, ist also gleichzeitig arm.
Zwar kann der Staat mittels eines progressiven Steuersystems und Sozialtransfers noch zu einem »großen Teil« die wachsende Ungleichheit auffangen, wie Bosch und Kalina schreiben. So gehören ihnen zufolge nach Steuern und Sozialleistungen rund 78 Prozent der Bevölkerung zur Einkommensmittelschicht. Doch ganz hat der Staat diese Entwicklung nicht aufhalten können. Im Jahr 2000 belief sich der Anteil der Mittelschicht nach dem Eingriff des Staates nämlich noch auf 83 Prozent. »Vor allem seit Anfang des Jahrtausends wachsen die Anteile der oberen und der unteren Einkommensschichten zwar nicht dramatisch, aber doch mit einem eindeutigen Trend um 3,7 Prozentpunkte (Unterschicht) bzw. 1,5 Prozentpunkte (Oberschicht)«, so die Forscher.
Einen wichtigen Grund für die wachsende Ungleichheit bei den Einkommen ist der Studie zufolge, dass die oberen Schichten nicht nur mehr für ihre geleisteten Arbeitsstunden bekommen, sondern auch länger arbeiten. Im Schnitt arbeiten sie fast 2000 Stunden mehr pro Jahr als die Haushalte am unteren Ende der Einkommensskala. Bei letzteren nahm das Arbeitsvolumen in den vergangenen Jahren um rund ein Fünftel ab.
Doch wer meint, dass diese Unterbeschäftigung freiwillig gewählt sei, irrt. Häufig finden die Betroffenen nur Anstellung in Minijobs oder kurzer Teilzeit. So wünschen sich knapp 44 Prozent der abhängig Beschäftigten der Unterschicht, mehr als vertraglich vereinbart zu arbeiten, heißt es in dem IAQ-Bericht.
Die Folge dieser Unterbeschäftigung ist, dass die unteren Schichten immer mehr von staatlichen Leistungen abhängig sind. Der Anteil des Markteinkommens an ihren gesamten Einkünften sank seit Mitte der 1990er Jahre. Er beläuft sich derzeit nur noch auf ein gutes Drittel. Und auch die untere Mittelschicht - also jene Haushalte, die zwischen 60 und 80 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben - sind mittlerweile massiv auf staatliche Leistungen angewiesen: Rund 43 Prozent ihrer Einkünfte stammen aus Sozialtransfers oder staatlichen Renten.
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