»Komm rein, hier sitzt du gut«
Die Getreide- und Rapsernte im thüringischen Landkreis Gotha ist zu Ende. Viele Äcker sind hier noch immer im Besitz der Bauern, was auf die Bodenreform und die Enteignung der Großgrundbesitzer vor 70 Jahren zurückgeht. Von Burga Kalinowski
Ernte, das Wetter, die Sorgen der Bauern, Bodenreform 1945, die Wende 1989/90, Landwirtschaft heute - da kann nichts passieren: Historische Momente und biografische Bilanzen im Alltag. Die Reportage darüber aus der Gegend um Gotha klappt. Dachte ich. Einen Plan B gab es nicht. Alles war klar. Dann platzen die Termine mit den drei wichtigsten Gesprächspartnern. »Hier ist die Hölle los«, hieß es. Ja und.
Zum Glück treffe ich in Gotha Johanna Scheringer-Wright, agrarpolitische Sprecherin der LINKEN im Thüringer Landtag. Sie kennt sich in der Region aus, sie kennt die Probleme der Bauern, sie ist Expertin für ökologische Landwirtschaft und eine Scheringer. Sie bringt mich in die Familie: Der Onkel, Konrad Scheringer und seine Frau, Cousine Kathie, die Cousins Robert und Nico. Es ist ein später Nachmittag im August. Über die Fahnerschen Höhen legen sich schon ganz leicht die blauen Schatten des Abends. Erzählstunde im Garten. Zeitgeschichte und Familiengeschichten unterm Nußbaum. Robert drischt noch den Raps zuEnde und kommt später, Nico mäht bis in die Nacht den letzten Weizen. Ihn treffe ich tags darauf auf dem Feld beim Strohpressen.
In den nächsten Tagen bin ich in Großfahner, Kleinfahner, Döllstedt, früher LPG und Kooperationsverband. Hier leben und arbeiten gewissermaßen die DDR- Bürger des bayrischen Scheringer-Clans. Konrad, ein Sohn, und die Enkelkinder von Richard Scheringer, eine legendäre und umstrittene Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Erst Reichswehr, schwarz und national, kurz bei den Nazis. Dann rot und für die sozialistische Weltrevolution. Ein langer Weg von da nach dort. Auch falsch und gefährlich. Ulmer Prozeß, Urteil, Festungshaft. Er denkt nach. Er begreift. Er lernt aus Erfahrung und in der Haft als Gefährten schließlich Kommunisten kennen, bekennt sich 1931 zu ihren Zielen und bleibt bis zum Lebensende 1986 dabei. Endlich das Richtige. Für ihn. Nach dem Krieg ist er Abgeordneter und Chef der KPD-Fraktion im Bayrischen Landtag, später erkennt ihn der Bundesgerichtshof die bürgerlichen Ehrenrechte ab, weil er für das KPD-Programm zur deutschen Wiedervereinligung eintritt. Er war Soldat, Bauer und Rebell. Die Geschwister Scholl verbrachten ihre Ferien auf seinem Bauerhof bei Ingolstadt, mit dem Verleger Ernst Rowohlt war er befreundet, Walter Ulbricht hat ihn besucht und Ernst Jünger schrieb auf den Trauerkranz »Dem alten Freunde«. Seinem Lebensbericht gibt Scheringer den Titel »Das große Los«.
Mit Katharina Scheringer stake ich über das Rapsfeld. Es ist wahnsinnig heiß - der Wetterbericht meldet Hitzerekord -, es staubt und stiebt, aber Kathi ist begeistert. »Gucke, was der schafft«, sie meint den Mähdrescher u n d ihren Bruder Robert. Sie lacht und winkt. Ihre gute Laune ist ansteckend.
Ich weiß nicht, ob sie als Haupbuchhalterin der Agrar-Genossenschaft Groß-Fahner Zahlen mögen muß, bin mir aber ganz sicher, dass sie das Land und die Landwirtschaft liebt - die Arbeit mit der Natur, die Ernte, die Mühen und besonders den Erfolg. »Guck mal hin, wie die Körner fließen. Das sind Scheine für unser Betriebskonto. « Das ist schön, sagt sie und zeichnet mit der Hand einen großen Bogen , der das fast abgerntete Rapsfeld, die angrenzenden Apfelbäume, die sanften Höhen bis zum Horizont umfaßt. »Dahinten am Hexenberg haben wir als Kinder gespielt«. Heute stehen ihre Bienenvölker dort.
Wieder surrt der Mähdrescher vorbei. »In so einer Maschine mitzufahren, das ist ein Traum« versichert sie. Frag mal den Robert. Robert Scheringer, 49 Jahre, hier aufgewachsen, hat Schäfer gelernt, sich nach der Wende zum Meister der Tierwirtschaft spezialisiert, dann noch ein Management-Studium als Betriebswirt gemacht, seit 2002 ist er Vorstandsvorsitzender der Agrargenossenschaft Großfahner.
»Komm rein« sagt er, »hier sitzt du gut«. Wirklich, es ist ruhig in der Fahrerkabine, fast gemütlich. Naja. Jedenfalls kann man gut miteinander reden, ohne zu schreien. Wir fahren einige Runden. Robert Scheringer erzählt vom Alltag und von Geschichte.
Robert Scheringer: Landwirtschaft ist immer noch wie seit ewigen Zeiten. Der Acker wird bestellt, die Kulturen werden gepflegt, es wird geerntet, die Tiere werden gefüttert. Unsere Arbeit findet unter freiem Himmel statt. Aber heute geht es dir wie einem reinen Mittelstandsbetrieb: Wenn es nicht läuft und du hast kein Geld, bist du bankrott. Also du musst immer am Ball bleiben. Die Preise werden aber nicht mehr in der Region gemacht.
Warum?
Preise werden an der Börse gemacht, du musst Kontrakte auf die Ernte vom nächsten Jahr abschließen. Das ist wie Pokern. Du hast Börsenpreise und dann musst du sagen, heute verkaufe ich mein Getreide. Dann hast du verkauft und am nächsten Tag kann der Preis hoch sein, kann auch niedrig sein - pfff. Im besten Fall kannst du viel Geld verdienen, im schlimmsten Fall viel verlieren. Das hat zu DDR-Zeiten keine Rolle gespielt, wie viel Beschäftigte du hattest, wie viel du geerntet hattest, das wurde staatlicherseits alles abgepuffert. Heute: Geht was schief, musst du Leute entlassen. Für Menschen und ihr Leben waren die DDR-Zeiten besser. Für Betriebe ist es heute besser: Du bist frei in deiner Entscheidung. Natürlich unterliegst du auch politischen Zwängen in Größenordnungen.
Zum Beispiel?
Cross Compliance, was von der EU vorgeschrieben wird, die 19 Punkte, die du einhalten musst. Milchquote ist ja jetzt weg. Zuckerrübenquote fällt nun auch. Da sind wir sowieso immer beschissen dran gewesen, weil in der DDR andere Anbaustrukturen waren. Nun bist du dem Finanzkapital ausgesetzt, das ist einfach so. Und da musst du drin wirtschaften. Zu DDR-Zeiten wiederum musstest du alle Leute nehmen, die gar nicht dafür prädestiniert waren zum Beispiel mit Viehzeug umzugehen. Heute bilden wir unser Personal selber aus, aber alles mit weniger Leuten. Und in der Ernte merkt man das, früher hast du zwei Mähdrescherfahrer für einen Mähdrescher gehabt, heute fährst du alleine. Da sitzt du manchmal 16 Stunden auf der Maschine - anstrengend, stressig. So allein in der Kabine, da fängst du an zu philosophieren. Ja, du bist frei auf deiner Scholle, aber du bist auch dein eigener Sklave, genau so ist es. Und wenn du Kühe hast - du bist 365 Tage rund um die Uhr in der Arbeit. Entweder gehst du in den Stall in der Nacht, oder die Kuh ist tot. Und du hast das Geld verbrannt.
Oder du hast drei Leute, die in Schicht arbeiten.
Ja, vergiss es. Du musst mit wenig Leuten auskommen, mit ganz wenig Leuten. Die Marktzwänge wirken an jeder Stelle. Der Einzelhandel diktiert die Preise. Welchen Grund gab’s, den Milchpreis runterzusetzen? Gar keinen Grund gab’s.
Warum ist er dann so niedrig?
Weil der Handel Geld verdienen will, an den Erzeuger aber nicht viel Geld bezahlen und die höchste maximale Gewinnspanne erzielen will. Darum geht’s doch immer.
Im September/Oktober 1945 fand in der damaligen SBZ die Bodenreform statt, auch in Thüringen. Enteignungen von Gütern über 100 Hektar. Was hat das gebracht?
Zum Teil Geschrei und Gezeter, bis heute noch. Manches war engstirnig, auch ungerecht. Meistens hat es aber die Richtigen getroffen. Wichtiger ist doch, es wurde daraus eine Zukunft für viele, die bisher keine hatten: Landarbeiter, Gutsknechte und vor allem hunderttausende Umsiedler, Flüchtlinge aus Pommern, Sudetenland und so. Junkerland in Bauernhand - die darüber jammern, vergessen, dass es auch zu den inhaltlichen Beschlüssen des Potsdamer Abkommens gehörte - das ist doch bekannt, dass die preußischen und ostelbischen Junker die Nazis ge- und unterstützt haben. In 312 Adelsfamilien gab es 3592 NSDAP-Mitglieder. Auch der feine Hochadel hatte beste Verbindungen. Habe ich gelesen.
Nee, nee, die Bodenreform ist eine faire Geschichte gewesen. Man muss das mal historisch betrachten: Das meiste war ja alles mal Bauernland. Und über die Jahrhunderte, zum Beispiel während des Bauernkrieges, ist das Land den Bauern weggenommen worden. Das hat die Kirche sich unter den Nagel gerissen, die Grafen und Fürsten haben es sich unter den Nagel gerissen und noch ein paar Möchtegerne mit einem »von« vor dem Namen - wenn der Bauer nicht gespurt hat, haben sie ihm den Kopf abgehackt und dann hatten sie das Land.
So einfach geht das.
So einfach war das. Es ist ja auch diesen Herren - den Alteigentümern - heute noch ein Dorn im Auge, dass im Osten die Bauern Land haben. Wieder haben. Immer noch haben. Die haben ja auch viel unternommen, um die Bodenreform rückgängig zu machen. Nun ist es im Prinzip erledigt. Bodenreform bleibt. Aktuelle Probleme gibt es aus meiner Sicht mit den industriellen Käufern, die ihr Kapital in Land anlegen. Denen ist das Land aber scheißegal, die müssen nicht davon leben und die bezahlen horrende Preise, was du in drei Generationen nicht erwirtschaftest. Für die ist das eben ’ne Geldanlage.
Acker wird Ware?
Klar, Grund und Boden verfällt nicht, Geld verfällt. Das war schon immer so. Das ist für uns die größte Konkurrenz. Da spielt auch der Staat eine schlechte Rolle, die BVVG spielt eine schlechte Rolle. Das ist so eine Art Treuhand. Die verkaufen Land am teuersten, ihre Verpachtungen sind auch die teuersten. Und die Kirche spielt noch mit. Die hat die allerhöchsten Pachtpreise. Du musst ja immer das Verhältnis sehen: Was ernte ich von dem Acker, was bezahle ich für Pachten, was bleibt mir übrig, um vernünftige Löhne zu zahlen. Was bleibt mir übrig, um zu investieren. Weil irgendwann, wenn du nicht investierst, bist du tot. Das sind so Sachen, wo wir kämpfen müssen. Wir haben hier Käufe von Industriellen, die bezahlen fast jede Summe. Für Windräder. Für alle Fälle. Für industrielle Biogasanlagen, die Acker binden und mit Mais wirtschaften, wo wir schon von einer Vermaisung reden. Stell dir vor: Acker für 30 000 Euro, 40 000 Euro für einen Hektar.
Boden wird umfunktioniert?
Ja. Er ist ein Produktionsmittel und wird zu einem Börsenwert gemacht, der Profit bringen soll. Aber Acker ist meine Hauptproduktionsgrundlage. Ich brauche keine Biogasanlage, ich brauche keine Kühe, ich brauche keine Landwirtschaft zu machen, wenn ich den Acker nicht habe. Land bedeutet immer Macht. Landbesitz ist eine ganz große wirtschaftliche und politische Macht.
Wie hat die Wende die Verhältnisse hier verändert?
Die Eigentumsverhältnisse haben sich kaum geändert, es hat sich aber ein anderer Bezug zum Acker entwickelt. Den Leuten ist bewusst geworden, Mensch, ich hab Ackerland! Das ist Eigentum. Das ist was wert. Das hat sich geändert. Wir als Agrarbetrieb haben mit den Eigentümern der Landflächen ordentliche Pachtverträge abgeschlossen. Das sind ehemalige LPG-Mitglieder und Nicht-Mitglieder, die eben wieder Eigentümer ihrer Flächen wurden. Die sind zu DDR-Zeiten nie enteignet worden. Die standen im Grundbuch und sind im Grundbuch geblieben wie auch das Erbrecht immer bestanden hat.
Diese Besitzverhältnisse sind geblieben. Geändert haben sich die Betriebsstrukturen. Die politischen Strukturen, die Ökonomie.
Wie viel Hektar hat eure Genossenschaft?
Wir bewirtschaften insgesamt 1800 Hektar, davon sind 400 Hektar Eigentum. Den Rest haben wir gepachtet. Und das Geld musst du eben erwirtschaften. Das Wichtigste ist, dass du pünktlich die Löhne zahlst und die Pacht. Du musst deine Leute ordentlich entlohnen. Niedrige Löhne zu bezahlen ist sittenwidrig, das ist Ausbeutung und das kann man nicht machen. Wer hier eine ordentliche Arbeit vollbringt, der soll ein ordentliches Geld verdienen.
Ihr seid so eine Art Agrarmonopolist hier?
Nicht alleine. Also hier in den Dörfern schon, dann haben wir ja noch Fahner Obst, das ist ein Betrieb, dann ist Andisleben, dann haben wir untereinander Abkommen, dass wir Flurtausch machen. Wir tauschen dann den Acker untereinander aus, um die großen Strukturen zu erhalten, weil das sind wirtschaftliche Einheiten, auf denen man vernünftig wirtschaften kann.
Was die LPG wollten und sollten, das wird jetzt auch gemacht.
Richtig. Und es gilt ja heute mehr denn je, dass du als Genossenschaft besser und effektiv wirtschaftest. Das ist ’ne Überlebensfrage. Und das kannst du nur mit so großen Produktionseinheiten. Bei uns heute ist allerdings alles freiwillig. Bei der Kollektivierung damals in der DDR ging es teilweise sehr ruppig, schikanös, auch repressiv zu. Die Schikane heute liegt nicht so sehr in einzelnen Aktionen gegen Leute, sondern entsteht aus dem Terror der Strukturen. Auch nicht besser. Und so wirtschaften wir halt.
Ist das industriemäßige Landwirtschaft?
Industriemäßige Landwirtschaft ist es, aber man muss vorsichtig sein mit Begriffen. Zum Beispiel Massentierhaltung. Wir haben hier bei uns im Betrieb 700 Milchkühe stehen, und da ist die Diskussion: Ab welcher Größe ist es eine Massentierhaltung? Wir haben hier investiert auf absolutes Tierwohl - die Kuh muss alt werden und die muss auch entsprechende Leistung geben, sonst kommt sie weg. Das ist aber schon immer so in der Viehhaltung. Und da gibt es Diskussionen vom allerfeinsten über Turbokühe. Ich würde auch lieber Kühe haben, die 6000 Liter Milch geben im Jahr und viel länger leben, wenn der Preis vernünftig wäre. Wenn ich heute für 26 Cent einen Liter Milch produzieren muss, dann muss ich die maximale Leistung aus der Kuh rausholen, ansonsten kann ich den Viehhändler anrufen und sagen, hol die Kühe weg, und ich entlasse auf einen Schlag 14 Leute, die stelle ich auf die Straße, die sind dann arbeitslos, die können sich beim Amt melden, kriegen dann vielleicht Sozialhilfe oder Hartz IV. Ist das eine vernünftige Gesellschaft, die wir haben? Das ist doch nicht Sinn und Zweck des Arbeitens. Das ist doch Scheiße alles!
Ja.
Ich muss auf Teufel komm raus für 26 Cent Milch produzieren. Und wenn der Milchpreis immer weiter runtergeht? Das ist eine politische Sache, hier muss mal endlich ein Riegel vor, dass der Handel, dass der Einzelhandel die Erzeuger nicht mehr ständig knebelt.
Wie viel geben hier die Kühe?
Wir haben zur Zeit eine durchschnittliche Herdenleistung von 9500 Liter pro Kuh und Jahr. Das ist pro Kuh und Tag 30 Liter Milch im Schnitt. Bei uns ist keine Kuh, ist kein Kalb angebunden. Die haben freien Raum, können sich bewegen. Jede Kuh hat ein Strohbett. Die würden die Leistung nie geben, wenn sie sich unwohl fühlen.
Mir geht es gut, meinen Leuten geht es gut, den Kühen geht es gut, wenn ich einen Milchpreis von mindestens 36 Cent aufwärts habe. Bei 26 Cent verbrauchst du Reserven, die du dir aufgebaut hast. Da möchte ich kotzen! Es ist nicht kostendeckend. Kein normaler Betriebswirt würde so was machen. Der würde sagen, Viehhändler anrufen. Aber als Landwirt schlägt auch ein Herz in der Brust. Ich mag Kühe und sage mir, der Milchpreis kommt wieder. Immer in der Hoffnung, er kommt wieder.
Wie hoch müsste er sein?
Der müsste mindestens 31, 32 Cent sein, dass wäre kostendeckend. Momentan machen wir mit jedem Liter Milch Minus. Richtig Minus. Hier haben alle Angst um den Arbeitsplatz. Und das ist politisch gewollt. Man muss es mal so betrachten: Ein Volk, das Angst hat oder das ruhig ist, das geht nicht auf die Straße und rebelliert. Also soll das Essen schön billig sein. Ein Volk, das satt ist, rumort nicht. Deshalb: billig. Wenn das so weiter geht, muss ich Leute entlassen. Ich muss als Linker Leute entlassen. Das tut weh.
Warum eigentlich?
Weil ich anders erzogen bin. Weil ich in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen bin. Ich bin in der DDR groß geworden und da hat es mir gefallen.
Das muss man heute erklären.
Ich habe eine gute Kindheit gehabt, eine richtig gute Kindheit. Die war stressfrei, die war sorgenfrei. Ich habe eine schöne Lehre gehabt. Ich habe eine schöne Arbeit gehabt, die Arbeit liebe ich, sonst würde ich ja hier nicht sitzen.
Die Geschichte deines Vaters Konrad, der vom Westen in den Osten gegangen ist, verstehst du die?
Ja, das war ja so: Die Scheringers auf dem Dürrnhof bei Ingolstadt hatten elf Kinder. Die hätten dort auf dem Hof nie existieren können. Und unser Großvater Richard Scheringer hat seine Kinder kommunistisch erzogen. Und hat das System des Sozialismus bevorzugt. Eine Tochter und vier seiner Söhne sind in die DDR gegangen. Mein Vater Konrad sollte im anderen System schauen wie das ist und er ist hier geblieben, hat Landwirtschaft gelernt und studiert, war LPG-Vorsitzender. Er hat sich auch mit den agrarpolitischen Dummheiten und Fehlern der DDR rumgeärgert. Aber er hat seine Arbeit immer gut gemacht. Unsere heutige Agrargenossenschaft ist ein Nachfolgeunternehmen der LPG Karl Marx, da war mein Vater Vorsitzender.
Gestern war letzter Erntetag?
Für unseren Betrieb. Und wir haben auch ein kleines Ernteabschlussfest gefeiert, ein bisschen gebrätelt und ein Bier getrunken. Man freut sich, dass die Ernte gut drin ist. Es ist nichts passiert, wir haben keine Unfälle gehabt. Wir haben ganz wenig Maschinenbruch gehabt in der ganzen Zeit, wo richtig viel teure Technik auf dem Acker läuft. Und da ist man eigentlich glücklich. Und jetzt geht es weiter. Stroh pressen, Winterweizen aussäen, den nächsten Raps.
Was war mit dem Hagelschlag?
Na, wir hatten Hagel auf gut 800 Hektar. Totalausfälle beim Getreide, also bis 100 Prozent, da ist nichts mehr da gewesen. Hier war die Hölle los. Wir hatten am 3. Juli schwere Gewitter, am 2. Juli war ich draußen, habe geschaut, wie weit die Ernte ist, ob die Gerste reif ist da oben in der Flur. Ob wir dreschen können. Du hast ja Herzblut reingesteckt. Du hast dich gefreut, da steht ordentlich was da. Dann das Unwetter.
Dann bin ich am 4. Juli rausgefahren, da stand ich vor dem Acker, da war nichts mehr da, nicht mal das Stroh. Alles weg. Da kommen dir die Tränen. Wenn du da nicht versichert bist, kannst du dir einen Strick nehmen und kannst dich hinhängen. Das ist das Risiko: Du produzierst unter freiem Himmel. Aber das, was wir geerntet haben, ist alles in einer guten Qualität rein gekommen. Da sind wir zufrieden.
Rückblick: Ihr habt die Wende einigermaßen überstanden.
Das war nicht sicher. Was war damals schon sicher? Wir waren LPG und alles stand in Frage. Wir hatten gar nichts. Wir hatten Technik, wir hatten Viecher, die Ställe haben uns gehört, aber die Ställe standen nun auf fremden Land, das von heute auf morgen wieder den Eigentümern gehörte. Wir mussten entscheiden: Machen wir weiter oder lösen wir den Laden auf?
Wer hat es entschieden?
Die gesamte Belegschaft. Über 300 Menschen. Das war ein großer Betrieb und da ist dann demokratisch beschlossen worden, wir machen weiter. Es wurde sich dann auch rigoros von Leuten getrennt, andere sind von sich aus gegangen. Die dachten, es geht sowieso vor den Baum. Und so hat sich dann ein Kern gebildet, dass Arbeitsplätze erhalten werden. Die Volkseigenen Betriebe sind ja auf null gefahren worden. Am liebsten hätte es die Regierung mit uns auch so gehabt. Und die Treuhand sowieso.
Deshalb sag ich immer zu den Bauern: Lasst euch nicht von den Großen knechten. Am Ende seid ihr die Dummen. Ich frage mal: Muss man sich knechten lassen?
Nee. Das war die Idee von eurem Großvater und Vater: dass man sich nicht knechten lassen muss.
Das ist auch meine Idee: Man lässt sich nicht knechten, auch nicht von den Finanz-Zecken.
Das klingt nach Kampf.
Das sage ich dir. Immer.
Acker, Ernte, Geld und zack, schon ist man in den Kämpfen der Welt.
So ist es. Da können wir uns den ganzen Tag drüber unterhalten.
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