Willkommen in der Sagenwelt
Oranienburg versucht den Spagat zwischen Lokalpatriotismus und Weltoffenheit
Stumm soll sie jahrelang nächtens über die Flure des Oranienburger Schlosses geschlichen sein. Sie sprach kein Wort, stets aber soll ihr Erscheinen ein schweres Unglück nach sich gezogen haben. Wer die weibliche Gestalt im weißen Hemd war, wusste niemand. Zuletzt, so geht die Sage, wurde sie im Jahr 1887 gesehen. Seitdem sei sie nie wieder aufgetaucht. Den Ort, an dem sie gespukt haben soll, gibt es bis heute.
Zwar residieren hier nicht mehr die Kurfürsten, aber mit dem Kreismuseum Oberhavel beheimatet der älteste Barockbau der Mark Brandenburg eine geschichtsbewusste Institution, die deren Andenken ebenso in Ehren hält, wie sie das ganz gewöhnliche Alltagsleben darstellt. Eine Verbindung beider Perspektiven bietet die noch bis November laufende Ausstellung »Sagenhaftes Oberhavel«, in der regionale Sagen präsentiert und durch Fotografien illustriert werden.
Fußläufig ist der Schlossplatz vom Bahnhof in zehn Minuten zu erreichen. Nähert man sich ihm von unterhalb der Schlossbrücke, entsteht der Eindruck, das prunkvolle Anwesen schwömme gemächlich auf der Havel. Erst nach der Ankunft auf dem weitflächigen Vorplatz lassen sich die Dimensionen des Areals erfassen. Ein sorgfältig ausgeschilderter Weg führt geradewegs hinein in den Mittelbau, in dessen Foyer Ulrike Rack steht.
Die Kuratorin führt über einen schmalen Treppenaufgang zur Werkschau. Racks Idee war es, in einer neuen Sonderausstellung einen ungewöhnlichen Blick auf die Oberhavel zu werfen. Mit dem ersten Exponat, ausgestellt hinter Glas, fing auch ihre Recherche an: »Max Rehbergs Buch ›Aus dem Sagenschatz der Heimat‹ erschien 1923 in Oranienburg«, so die Museologin. Rack entdeckte in dem Werk »viele wunderbare Geschichten, die vor allem ältere Mitbürger hier noch immer kennen. Gerade jüngere Menschen verlieren aber immer mehr den Bezug zum Sagenhaften ihrer Umgebung.«
Also nahm Rack eilig Kontakt auf zu Kommunen und Ortschronisten, recherchierte, wertete Zuarbeiten aus und gestaltete schließlich die nach Städten und Gemeinden geordnete Ausstellung mit imposanten Landschaftsbildern, in die sie die Texte der Sagen eingeflochten hat. Hier lässt sich einiges erfahren über den nackten Schäfer von Bärenklau, die betrunkenen Gänse von Beetz, den Kobold in Schmachtenhagen - oder die drohenden Wolken von Oranienburg: »Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs«, erzählt Rack, »konnte man der Sage nach eine eigentümliche Wolkenformation erkennen. Eine Wolke in Form einer Hand war zu sehen, die mit allen Fingern drohend nach Osten zeigte. Manche deuteten das als Krieg ankündigendes Zeichen, und der Krieg trat bald ein.«
Am Ende der Führung steht Rack am Fenster im Foyer und zeigt auf eine Frauenstatue vor dem Schloss. Es ist das Denkmal für die Kurfürstin Luise Henriette von Oranien. Die Adelige ließ das Schloss im 17. Jahrhundert bauen und gab ihm den Namen »Oranienburg«. 1655 feierte sie ihren Einzug in den äußerlich an der zeitgenössischen Architektur des holländischen Klassizismus orientierten Bau, hinter dem sie einen Park errichten ließ, der bis heute existiert und in dem 2009 die Landesgartenschau unter dem Titel »Traumlandschaften einer Kurfürstin« stattfand.
Damals war die seit 1990 von 37 111 auf 43 600 Einwohner gewachsene Kreisstadt des Landkreises Oberhavel stolze Gastgeberin, als die sie sich nun unter dramatischeren Vorzeichen erneut präsentieren will. Denn Oranienburgs Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke (SPD) möchte im Stadtteil Lehnitz neue Sozialwohnungen bauen, in die nicht nur Ansässige, sondern auch Flüchtlinge ziehen sollen. Derzeit sind die Geflüchteten in einer ehemaligen Bundeswehrkaserne am Ortsausgang untergebracht: »Das könnte ein Pilotprojekt werden, in dem Einheimische und Migranten gemeinsam leben und eine Ausgrenzung von Flüchtlingen vermieden wird«, formuliert Laesicke seine kühne Vision. Es gibt da nur ein Problem: Das Gelände gehört der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, und die Stadt hat nicht das Geld, um das Land zu kaufen. So erscheint der Plan unrealistisch. Doch nicht nur das, auch die Reaktionen wohlhabender Lehnitzer enttäuschten den seit 1993 amtierenden Bürgermeister. Er habe einige »schäumende Briefe« erhalten, in denen sich die Wutbürger beschwerten, ihre Grundstücke und Häuser würden durch weitere Flüchtlingsunterkünfte »entwertet«. Wie im ganzen Land, so ist offenbar auch in Oranienburg die Stimmung gereizt. Dabei entsteht beim Flanieren durch die Innenstadt alles andere als ein fremdenfeindlicher Eindruck. Auf den Hauptstraßen reihen sich Dönerläden an Asia-Shops, an vielen Ecken unterhalten sich Menschen, die erkennbar unterschiedlichen Kulturkreisen entstammen.
Historisch ist diese Entwicklung keine Selbstverständlichkeit: Im heutigen Ortsteil Sachsenhausen befand sich seit 1933 ein KZ, ab 1938 war der Standort Sitz der Inspektion aller Konzentrationslager. Wo heute Touristen schamlos mit ihren Fotohandys für Selfies am »Arbeit macht frei«-Tor posieren, bemüht man sich von offizieller Seite um eine umfassende Aufarbeitung. Als Rüstungszentrum war Oranienburg im Krieg bevorzugtes Ziel alliierter Bomber, was sich bis heute in Blindgängerfunden bemerkbar macht.
Ende Juni waren im gesamten Landkreis 1089 Flüchtlinge registriert. Dennoch heizt in Oranienburg eine »Nein zum Heim«-Kampagne die Stimmung an. Zugleich aber engagieren sich viele Menschen in der Initiative »Willkommen in Oberhavel«, die Flüchtlinge betreut, Deutschkurse organisiert oder Fahrradspendenaktionen initiiert. Sie wollen Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen fördern. Denn auch wenn eine akribisch konzipierte Ausstellung wie »Sagenhaftes Oberhavel« die Heimatverbundenheit der Menschen zum Ausdruck bringt, bleibt es für Oranienburg eine wichtige Aufgabe, in der Stadt die ausgeprägte Willkommenskultur zu erhalten.
Nächste Woche: Werder (Havel)
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.