Wende in der Flüchtlingspolitik
Britischer Premier Cameron gibt offenbar Stimmungsumschwung nach
Einzelheiten einer neuen Regelung der Aufnahme von Flüchtlingen in Großbritannien stellte Premierminister David Cameron am Freitag in Aussicht. Tausende Flüchtlinge, die bislang in Lagern nahe der syrischen Grenze lebten, sollen ins Land gelassen werden. »Das gibt ihnen einen direkteren und sichereren Weg ins Vereinigte Königreich, statt dass sie die gefahrvolle Reise riskieren, die tragischerweise so viele das Leben gekostet hat«, warb der Premier für das veränderte Herangehen. Dabei blieben allerdings die weiterhin im nordfranzösischen Calais campierenden Flüchtlinge draußen.
Doch könnte durchaus ein Sinneswandel zu verzeichnen sein. Das Foto des ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi werd die öffentliche Meinung in England aufwühlen wie das Bild des napalmgeschädigten vietnamesischen Mädchens oder Robert Capas sterbender Soldat: so Sir Harold Evans, in den 1980er Jahren Chefredakteur der Sunday Times.
Eine Internet-Unterschriftenliste für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen fand in nur zwei Tagen schon 295 000 Unterzeichner. Lokale Gruppen bieten im Lager von Calais Unterkunft und Hilfe an. Die Zivilgesellschaft bewegt sich. Sogar rechte Boulevardzeitungen wie The Sun, die wochenlang gegen die Calais-Flüchtlinge gehetzt hat, wollen syrische Waisenkinder willkommen heißen.
Mag der rechte UKIP-Chef Nigel Farage gegen Wirtschaftsmigranten und angebliche Sozialschmarotzer wettern: andere Politiker riskieren endlich großzügigere Worte. Yvette Cooper, Labours innenpolitische Sprecherin und Kandidatin für die Ed Miliband-Nachfolge, forderte Landsleute und Regierende auf, 10 000 Syrer aufzunehmen.
Das wäre vielleicht keine große Sache im Vergleich zu 35 000 Syrern in Deutschland, aber die doppelt Zahl derer, die unter den Konservativen in den letzten vier Jahren aufgenommen wurden. Der frühere Labour-Innenminister David Blunkett will gar 25 000 Syrern eine Heimat bieten. Parteifreundin Heidi Alexander, eine Londoner Abgeordnete, zeigte sich über die bisherige britische Reaktion »total beschämt«. Auch der Konservative Nadhim Zahawi, enger Vertrauter von David Cameron, verlangte mehr Mitleid mit den Flüchtlingen.
Wer jedoch vom Leid der Migranten bisher unbeeindruckt blieb, ist der Tory-Premier. Britannien sei bereit, seiner moralischen Verantwortung gerecht zu werden, so Cameron. Mit warmen Worten allein ist aber nichts getan. Dafür verteidigt er weiterhin die bisherige britische Politik, Flüchtlinge in Ländern wie Libanon statt in Liverpool zu unterstützen. Im Gegensatz zu anderen EU-Staaten sei Britannien unter seiner Regierung dabei, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben, wie von den Vereinten Nationen seit Jahren gefordert.
Auch Camerons europäische Partner, auf deren Hilfe er bei der Suche nach Konzessionen vor der britischen EU-Abstimmung angewiesen ist, dürften davon unbeeindruckt bleiben. Denn von der EU-Politik einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge über alle Mitgliedsländer wollen die Konservativen nichts wissen. Cameron gibt zwar zu, die restriktive britische Politik werde zur Zeit überprüft, aber seine zögerliche Haltung wird seine Beliebtheit in den anderen europäischen Hauptstädten wohl nicht erhöhen.
Die Hilfsbedürftigkeit der Regierenden vor der EU- Abstimmung bietet den Flüchtlingen einen Hoffnungsschimmer, Coopers und Blunketts Hilfsbereitschaft einen zweiten. Auch Camaron wird sich wohl schneller als von ihm gewollt der umschlagenden Stimmung beugen müssen.
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