Was geschah im mexikanischen Iguala wirklich?

Experten der Interamerikanischen Menschenrechtskommission bezweifeln Angaben der Behörden zum Verschwinden von 43 Studenten

  • Gerd Goertz, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Jahr nach dem Verschwinden von 43 Studenten in Mexiko haben internationale Experten den Untersuchungsbericht der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.

Vor knapp einem Jahr verschwanden in der mexikanischen Stadt Iguala nach koordinierten Attacken von lokaler Polizei und Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos 43 junge Lehramtsstudenten der ländlichen Universität von Ayotzinapa. Während der Attacken wurden zudem sechs Menschen ermordet. Die mexikanische Generalbundesstaatsanwaltschaft (PGR) erklärte den Fall im Januar 2015 für praktisch gelöst. Die verschwundenen Studenten seien ebenfalls ermordet und auf einer Müllhalde nahe Iguala zu Asche verbrannt worden. Verantwortlich seien neben dem Bürgermeisterehepaar von Iguala ausschließlich die lokale Polizei und die Drogenmafia. Der damalige Generalbundesstaatsanwalt Jesús Murillo Karam verteidigte seine Version gegenüber den Skeptikern als »historische Wahrheit«. Am Sonntag legte die fünfköpfige Interdisziplinäre Gruppe Unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission nach knapp sechsmonatigen eigenen Auswertungen einen umfassenden vorläufigen Bericht vor. Er verwirft nicht nur die Regierungsversion. Er legt letztlich auch die Verwicklung von Bundespolizei und Armee nahe.

Die GIEI führte ausführliche wissenschaftliche Belege dafür an, die es unmöglich erscheinen lassen, dass die Studenten tatsächlich an dem angegebenen Ort innerhalb weniger Stunden zu Asche verbrannt wurden. Die Experten wiesen ebenfalls mit Nachdruck darauf hin, dass das Koordinationssystem zwischen der Polizei auf Kommunal, Landes- und Bundesebene sowie dem Militär in der Tatnacht vom 26. auf den 27. September 2014 funktionierte. Bundespolizei und vor Ort stationierte Militärs müssen daher genau gewusst haben, was in Iguala vor sich ging. Dennoch fehlen über die drei Stunden, in denen die Studenten mehrfach attackiert wurden, entsprechende Unterlagen.

Bei ihrer mündlich vorgetragenen Zusammenfassung am Sonntag sprachen die Experten auch an, dass einige Aussagen von Beschuldigten möglicherweise unter Folter zustande kamen. Nicht verfolgte Ermittlungslinien, verspätete und mangelnde Versorgung verwundeter Opfer und völlig unprofessionelles Vorgehen bei den Ermittlungen waren weitere Kritikpunkte der Expertengruppe. Ihr Fazit: Man müsse die Untersuchungen weitgehend neu aufzurollen. Ganz Mexiko warte auf eine Aufklärung, auch der wirklichen Motive des Verbrechens.

Die Familienangehörigen der 43 Studenten setzten sich wenig später auf einer eigenen Pressekonferenz für den unbefristeten Verbleib der GIEI in Mexiko ein. Der Bericht habe ihre Hoffnung genährt, die Studenten könnten doch noch leben. Sie forderten ein direktes Gespräch mit Präsident Enrique Peña Nieto bis spätestens 10. September. Für den 26. September riefen sie zu einer landesweiten Großdemonstration auf.

Der Präsident informierte am Sonntag über Twitter, er habe sein Kabinett angewiesen, die von der GIEI beigebrachten Elemente »zu berücksichtigen«. Innenminister Osorio Chong versprach erneut, es werde im Fall von Ayotzinapa keine Straflosigkeit geben. Und die seit Ende Februar amtierende Generalbundesstaatsanwältin Arely Gómez kündigte neue Gutachten international anerkannter Sachverständiger an.

Am Aufklärungsinteresse der Regierung müssen jedoch Zweifel erlaubt sein. Ihr war aufgrund des internationalen Drucks kaum etwas anderes übrig geblieben, als die Expertengruppe vor sechs Monaten ins Land zu lassen. Doch zuvor berief Präsident Peña Nieto den umstrittenen Generalbundesstaatsanwalt Karam ab. Der Kommandant des in Iguala stationierten 27. Infanteriebataillons wurde vor gut einem Monat in eine andere Landesregion versetzt. Die Bitte der GIEI, die Militärs in Iguala direkt interviewen zu können, wurde bisher nicht erhört. Die Gruppe beklagte sich zudem noch vor Kurzem über die mögliche Vernichtung eines Beweisvideos. Das alles ist ist nicht geeignet, die heftigste Anklage zu entkräften: »Es war der Staat.«

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