Werbung

Gefühl der Zusammengehörigkeit

Am Wochenende wird der Opfer des Nationalsozialismus am Tag der Mahnung gedacht

  • Hans Coppi
  • Lesedauer: 3 Min.
Anschläge auf Flüchtlinge beweisen es jede Woche erneut: Die Erinnerung an die Gräuel der Nazidiktatur darf nicht verblassen. Antifaschist Hans Coppi blickt auf einen wichtigen Gedenktag.

Überlebende der Konzentrationslager und Zuchthäuser begründeten vor 70 Jahren die Tradition, am zweiten Sonntag im September der Opfer der Nazibarbarei zu gedenken. Ich selbst habe noch sehr frühe Erinnerungen an diesen Gedenktag. Ich wuchs bei meinen Großeltern in einer Laubenkolonie in Tegel auf. Mir unbekannte Menschen standen eines Tages vor unserer Laube. Unter der an der Vorderfront der Laube angebrachten Tafel mit den Geburts- und Sterbedaten meiner Eltern legten sie Blumen nieder. Besucher schauten mich traurig an. Ich drängte mich an meine Großmutter. Es war der Tag der Opfer des Faschismus.

Das in »Werner-Seelenbinder-Kampfbahn« umbenannte Neuköllner Stadion vereinte am 9. September 1945 Zehntausende Menschen, darunter Frauen und Männer des deutschen Widerstandes, Überlebende des Holocaust sowie Angehörige und Freunde der in der NS-Zeit Ermordeten. Bereits am 8. September fanden in allen Stadtbezirken, an Schulen und in Betrieben Gedenkfeiern statt. Gottesdienste leiteten den Gedenktag ein. Am frühen Nachmittag des 9. September bewegten sich dreißig Demonstrationszüge mit den Fahnen der Alliierten an der Spitze nach Neukölln.

Der damals 15-jährige Georg Weise, erinnert sich noch heute an sein Hochgefühl, die Straße »nun wieder für uns zu haben«. Sein Vater hatte ihn nach acht Jahren Zuchthaus wieder in die Arme schließen können. Die 17-jährige Hanna Ehrlich nahm mit ihren Eltern an der Kundgebung teil. Sie waren 1939 als Mitglieder einer Adlershofer Widerstandsgruppe zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Hanna erlebte ein »überwältigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit«. Heinz Maurer kam zusammen mit der Antifa-Jugendgruppe aus Bohnsdorf zum Gedenken. Erstmals stand er an der Seite von Verfolgten des Naziregimes. Ein Erlebnis, das seine weitere politische Entwicklung beeinflussen sollte. Die Ravensbrück-Überlebende Maria Wiedmaier, Ottomar Geschke, der acht Jahre Gefängnis und Konzentrationslager überlebt hatte, verbanden in ihren Reden Trauer und Gedenken mit dem Aufruf, den Nazismus mit all seinen Wurzeln zu beseitigen und ein freies demokratisches Deutschland aufzubauen.

Die Erinnerung an die Verfolgten des Naziregimes bildete ein Gegengewicht zu dem weit verbreiteten diffusen Gefühl der »deutschen Katastrophe« und vermittelte Anstöße für ein Nachdenken über das Ausmaß der von der überwiegenden Mehrheit geduldeten Verbrechen. Schlussstrichmentalität, Scham über die eigene Schuld und Verantwortung, der Wunsch nach Neubeginn um den Preis des Vergessens, die Erfahrungen von Bombardierung und Vertreibung begründeten jedoch eine tiefe Kluft zwischen den überlebenden Opfern des Faschismus und großen Teilen der Bevölkerung.

Mit dem 1947/48 einsetzenden Kalten Krieg wurde der Gedenktag in der DDR und von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Westberlin weitergeführt und in Westdeutschland häufig sogar verboten. Mit seiner Zuordnung zum Volkstrauertag entschwand der OdF-Tag aus dem westdeutschen Erinnerungskanon.

1990 verständigte sich ein breites Berliner Bündnis den zweiten Sonntag im September als Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung weiterzuführen. Er knüpfte an die großen überparteilichen Kundgebungen in den frühen Nachkriegsjahren an. Als Aktionstag gegen Rassismus, Neonazismus und Krieg verbindet er seit 25 Jahren das Gedenken an die Opfer des Nazi-Regimes mit den aktuellen Debatten, in diesem Jahr mit der Situation der Flüchtlinge, dem Militär an Schulen, der Entschädigung für sowjetische Kriegsgefangene und den Reparationen für Griechenland.

Der diesjährige Gedenk- und Aktionstag kehrt am 13. September wieder nach Neukölln zurück. Um 12 Uhr mit einer Kundgebung am Werner-Seelenbinder-Stadion in der Oderstraße 192. Ab 13 Uhr beginnt das Fest der Begegnung am Herrfurthplatz im Schiller-Kiez. Dort erleben die Zuschauer ab 13 Uhr ein vielfältiges Programm, auch Begegnungen mit Hanna, Georg, Heinz und Erika Rathmann, den Zeitzeugen des 9. Septembers 1945.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.