Flüchtlingspolitik: Spahn wandelt auf den Spuren Seehofers

München: Nicht mehr für alle Ankommenden Notunterkünfte verfügbar / Sondersitzung des bayerischen Kabinetts / Münchner spenden Schlafsäcke und Isomatten / Innenminister kritisieren Flüchtlingspolitik der Bundesregierung

  • Lesedauer: 10 Min.

Update 19.30 Uhr: Bayern fordert wegen Flüchtlingen doppelt so viel Geld vom Bund
Nur eine Woche nach dem Koalitionsbeschluss zur Aufstockung der Flüchtlingshilfe des Bundes verlangt Bayern bereits eine Verdopplung der vereinbarten Mittel - mindestens. In diesem Jahr sollten die Länder und Kommunen statt einer nun zwei Milliarden Euro bekommen, im kommenden Jahr sechs statt drei, sagte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) am Sonntagabend nach einer Sondersitzung seines Kabinetts in München. Er begründete dies damit, dass sich die Lage in den vergangenen sieben Tagen - und damit seit dem Koalitionsbeschluss - noch einmal dramatisch verschärft habe.

Update 15.00 Uhr: CDU-Vize Laschet fordert Einwanderungsgesetz
Vor parteiinternen Beratungen hat CDU-Vize Armin Laschet für ein Einwanderungsgesetz geworben. Es solle alle bisherigen Vorschriften zusammenfassen, aber »in einer transparenten Struktur und in der geeigneten Tonlage, um die richtigen Arbeitskräfte für unsere Wirtschaft zu gewinnen«, sagte Laschet den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Montagsausgaben).

Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sprach sich im Hessischen Rundfunk am Sonntag dafür aus, die vorhandenen Regelungen »in einem zusammenhängenden Gesetzestext« zu bündeln. Es sei aber nicht »hinterwäldlerisch«, ein Einwanderungsgesetz abzulehnen, da alles, was darin geregelt werden könnte, längst an anderer Stelle stehe.

Der Chef der Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann, bezeichnete dagegen die bisherigen Einwanderungsregeln als »unübersichtlich und schwer handhabbar«. Linnemann warnte in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe jedoch dringend davor, die Debatte über ein Einwanderungsgesetz mit der Flüchtlingsproblematik zu vermengen. Vor den Beratungen der CDU-Gremien am Montag sagte der CDU-Politiker, er empfehle, »einfach mal die Luft anzuhalten und sich auf das Asylproblem zu konzentrieren.«

Update 14.40 Uhr: Sondersitzung des bayerischen Kabinetts wegen Flüchtlingen
Angesichts der weiterhin hohen Flüchtlingszahlen in München hat das bayerische Kabinett für Sonntagnachmittag eine Sondersitzung angesetzt. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) wollte mit den Ministern weitere Sofortmaßnahmen beschließen, wie die bayerische Staatskanzlei in München am Sonntag mitteilte. Alleine am Samstag waren bis 24 Uhr mehr als 12.000 Flüchtlinge über Österreich und Ungarn am Münchner Hauptbahnhof angekommen, bis 12 Uhr am Sonntag kamen nochmals rund 1.400. Weil erfahrungsgemäß die meisten Flüchtlinge erst abends ankommen, rechnen die Behörden damit, dass die erwarteten 20.000 Neuankünfte noch übertroffen werden. Seit 31. August kamen laut der Regierung von Oberbayern insgesamt mehr als 63.000 Asylsuchende am Münchner Hauptbahnhof an - weit mehr als der Freistaat Bayern im Jahr 2014 insgesamt aufgenommen hat.

Update 13.25 Uhr: CDU-Politiker Spahn schlägt sich auf Seite der CSU
CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn hat die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung scharf kritisiert und sich damit als erster Politiker aus der CDU-Führung offen gegen den bisherigen Kurs gewandt. Spahn warnte davor, die Öffnung der Grenze am vorletzten Wochenende für Flüchtlinge müsse »eine Ausnahme bleiben«, da als Folge der Digitalisierung Asylsuchende in ihren Heimatländern die Nachrichten und Bilder aus Deutschland »binnen Sekunden« sehen und sich deshalb Zehntausende Menschen Richtung Bundesrepublik ausmachten. »Das Problem ist doch, dass wir gar nicht abschätzen können, wie viele Menschen sich durch Bilder und Berichte ermutigt fühlen, sich auch auf den Weg nach Deutschland zu machen, obwohl sie eigentlich schon auf sicherem Boden sind«, so Spahn im Interview mit der »Süddeutuschen Zeitung«.

Der CDU-Politiker behauptete zudem, in Deutschland zeige sich derzeit aufgrund der zahlreichen positiven Berichten über die Hilfsbereitschaft vieler Menschen ein angeblich »klassische Schweigespirale« jener Personen, die »mit Ihren Sorgen und Fragen immer nur in der Minderheit sind«.

Kritik und Zweifel äußerte Spahn zu den Aussagen von SPD-Chef Sigmar Gabriel, Deutschland könne in eine halbe Million Flüchtlinge jährlich aufnehmen: »Dann muss die SPD erklären, wie man sicherstellen kann, dass es bei einer halben Million Flüchtlinge jährlich bleibt.« Zudem müssten die Flüchtlinge, die dauerhaft in Deutschland blieben, die »deutsche Leitkultur« anerkennen, so wie es Ex-CSU-Chef Edmund Stoiber gefordert hatte. »Natürlich müssen wir da vom ersten Tag an klar machen, dass die deutsche Rechts- und Werteordnung uneingeschränkt gilt.« Spahn verteidigte zudem das geplante Treffen zwischen der CSU-Fraktion im bayerischen Landtag und Ungarns Regierungschef Viktor Orban.

Update 13.15 Uhr: Brandenburgs Grüne fordern weitere finanzielle Hilfe für Einreise von Syrern
Syrische Kriegsflüchtlinge sollen nach dem Willen der Grünen in Brandenburg auch künftig mit finanzieller Hilfe nach Deutschland einreisen können. Die innenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion, Ursula Nonnemacher, forderte die Landesregierung auf, ein entsprechendes Aufnahmeprogramm zu verlängern. Wenn Angehörige oder andere Menschen die dafür anfallenden Kosten übernähmen, müssten Bürgerkriegsflüchtlinge nicht Schlepper bezahlen und ihr Leben bei der Flucht riskieren, sagte sie am Sonntag. Das 2013 erlassene Programm sei bis Ende September begrenzt.

Es ermöglicht Flüchtlingen auf vergleichsweise sicherem Weg nach Deutschland einzureisen. Bedingung sei, dass hier lebende Angehörige oder Dritte für den Lebensunterhalt aufkommen, hieß es. Die Grünen wollen dies auf Verwandte dritten Grades ausweiten. Bisher galt die Regelung nur für Verwandte ersten und zweiten Grades. Von den derzeit rund 3000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen in Brandenburg konnten nur 54 das Programm nutzen.

Update 13.10 Uhr: Sachsen will einige hundert Flüchtlinge aus München aufnehmen
Sachsen hat München bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise etwas Unterstützung zugesichert. »Wir können den bayerischen Kollegen anbieten, an diesem Wochenende ein 300 bis maximal 400 Flüchtlinge über das reguläre Kontingent hinaus aufzunehmen«, erklärte Innenminister Markus Ulbig (CDU) am Sonntag auf Anfrage und reagierte damit auf den Vorwurf aus München, die anderen Bundesländer ließen Bayern bei der Unterbringung der Asylbewerber über die Balkanroute und Ungarn im Stich. »Sachsen steht mit Bayern ständig in Kontakt.« Ob und wie viele Asylbewerber tatsächlich aus München nach Sachsen kommen, stand noch nicht fest.

Update 13.00 Uhr: Deutsche Bahn räumt erstmals regulären ICE für Flüchtlinge
Angesichts des Flüchtlingsandrangs hat die Deutsche Bahn erstmals einen regulären ICE zum Weitertransport von Flüchtlingen eingesetzt. Die Passagiere der Verbindung München-Berlin mussten auf andere Züge umbuchen, wie der Präsident der Regierung von Oberbayern, Christoph Hillenbrand, am Sonntag in München vor Journalisten sagte. »Die aktuelle Situation birgt solche Herausforderungen«.

Bisher hatten nur Sonderzüge Flüchtlinge transportiert. Angesichts des anhaltenden Eintreffens neuer Flüchtlinge habe es aber »keine Reserve« mehr gegeben, sagte eine Sprecherin der Deutschen Bahn. Das Unternehmen entscheide nach Anfragen von Behördenseite, inwieweit Personal und Züge verfügbar seien. Es helfe, damit die Ankömmlinge in München »menschenwürdig ans Ziel kommen«.

Laut Bahn war am Sonntag zunächst nur ein Zug betroffen, ein ICE von München über Leipzig nach Berlin. Nach Angaben der Sprecherin wurde für die gebuchten Passagiere die Zugbindung aufgehoben; sie konnten demnach auf jeden anderen Zug umsteigen. Der betroffene ICE sei bereits »früh« als ausfallender Zug im Auskunftssystem gekennzeichnet worden.

Die derzeitige Lage habe »Härten im Reiseverkehr«, sagte Hillenbrand. Aus humanitären Gründen sei dies aber nicht anders zu lösen. Laut Hillenbrand sollen auch am Montag Regelzüge mit Flüchtlingen besetzt werden. Zur genauen Anzahl und den betroffenen Verbindungen wollte er sich nicht äußern. Die Deutsche Bahn erklärte, sie entscheide »operativ«, ob weiter reguläre Züge für die Weiterreise von Flüchtlingen eingesetzt würden.

In München waren auch am Wochenende erneut tausende Flüchtlinge eingetroffen. Laut Hillenbrand zählte die Stadt seit dem 31. August insgesamt 63.000 Ankömmlinge.

Update 12.30 Uhr: Innenminister kritisieren Flüchtlingspolitik der Bundesregierung
Vor dem Treffen der EU-Innenminister in Brüssel haben die Innenminister der Bundesländer parteiübergreifend vor Chaos bei der Unterbringung von Flüchtlingen gewarnt. Die Länder seien völlig überrascht worden von der Einreiserlaubnis für Flüchtlinge aus Ungarn, sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD), der »Welt am Sonntag«. »Wir hätten Zeit für Vorbereitungen gebraucht. Und wir hätten vorher davon wissen müssen.« Anfang September hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Abstimmung mit Österreich tausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen lassen.

Die Länder seien bei der Unterbringung von Flüchtlingen am Limit, sagte Lewentz der Zeitung. »Wir können die Geschwindigkeit des Zustroms nicht mehr lange allein bewältigen.« Nötig sei noch mehr direkte Unterstützung des Bundes.

Nach Informationen der »WamS« warnten die Landesinnenminister Vertreter des Bundes außerdem vor Sicherheitsrisiken. Gefährder könnten einreisen, ohne dabei entsprechend registriert zu werden. Das Bundeskriminalamt (BKA) habe Hinweise, dass unter den Flüchtlingen auch Kämpfer terroristischer Organisationen sein könnten. Konkrete Anhaltspunkte dafür lägen derzeit aber nicht vor.

Weitere Flüchtlinge kommen: München am Limit

Berlin. In München kommen weiterhin Tausende Zufluchtsuchende an, am Samstag zählten die Behörden bis Mitternacht rund 13.000. Bis Sonntag könnte ihre Zahl auf 20.000 steigen. Nun fehlt es an Notunterkünften für die Ankommenden, es werden neue Zeltstädte errichtet und auch die Olympiahalle wird zum Notlager umfunktioniert. Erstmals seit einer Woche konnte die bayerische Landeshauptstadt am Samstag aber nicht mehr garantieren, dass alle Ankommenden sicher eine Notunterkunft bekommen.

Auch am Abend trafen weitere Züge mit Flüchtlingen an. Manche legten sich im Hauptbahnhof mit Decken und Schlafsäcken auf den Boden. Nach Informationen von ehrenamtlichen Helfern übernachteten einige Menschen auch am Zentralen Busbahnhof. Die Lage werde gerade geprüft, sagte Marina Lessig, Koordinatorin für das ehrenamtliche Engagement, kurz vor Mitternacht. »Wir sind zuversichtlich, dass wir zumindest alle mit dem Notwendigsten versorgen können: Decken, Wasser, Nahrung.« Ehrenamtliche und Feuerwehr hätten bereits begonnen, eine Zeltstadt aufzubauen, sagte Lessig. Auch in der Olympiahalle liefen bereits die Vorbereitungen, um dort Flüchtlingen vorübergehend aufzunehmen.

Die Bundeswehr half beim Einrichten der Notlager. Feldbetten seien kaum noch zu bekommen, hieß es. Gegen 20.30 Uhr hatten Helfer die Münchner über die sozialen Medien aufgerufen, Schlafsäcke und Isomatten zu bringen. »Wir haben weit mehr bekommen, als wir brauchen«, sagte Lessig. »Wir werden den Aufruf aber noch nicht stoppen, weil wir nicht wissen, was morgen los ist.«

Die Lage hatte sich bereits den ganzen Tag über abgezeichnet. »Sie sehen uns durchaus sehr besorgt vor sich«, hatte der Regierungspräsident von Oberbayern, Christoph Hillenbrand am Abend bereits gesagt. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) kritisierte erneut die mangelnde Unterstützung aus anderen Bundesländern. Außer nach Nordrhein-Westfalen seien am Samstag lediglich acht Busse mit insgesamt 400 Menschen in andere Bundesländer gestartet. »Das ist einfach lächerlich«, sagte Reiter. München übernehme gerade eine nationale Aufgabe. Die Situation sei seit Tagen absehbar gewesen. Dennoch habe sich nichts getan. Er sei »bitter enttäuscht, dass es nun auf ein Situation zuläuft, in der wir sagen müssen: Wir haben für ankommende Flüchtlinge keinen Platz mehr.«

Er finde es seitens der anderen Bundesländer nach zehn Tagen »absolut dreist, zu sagen: wir sind am Anschlag«. Wer so spreche, solle sich in München ansehen, was »am Anschlag« bedeute. Reiter und Hillenbrand wiederholten ihren Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die anderen Bundesländer, München und die Region nicht alleinzulassen. Jeder Zug, der in einer anderen Kommune ankomme, sei eine Entlastung für München.

Der Präsident des Bayerischen Landkreistages, Christian Bernreiter, forderte den Bund energisch zum Handeln auf. Nötig sei ein Masterplan zur Bewältigung des Flüchtlingszustroms, sagte Bernreiter in München. Bisher aber reagiere der Bund aber planlos: »Die Handhabung der Flüchtlingskrise ist erschreckend«, sagte Bernreiter, der auch Deggendorfer Landrat ist. Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder müssten sich umgehend treffen und einen umsetzbaren Plan ausarbeiten. Derzeit aber laufe es »wie immer: Aus Berlin kommen warme Worte oder schlaue Sprüche, die Arbeit wird in Bayern erledigt!«

Wegen der Lage in München kommt das bayerische Kabinett am Sonntag zu einer Sondersitzung zusammen. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat den Ministerrat für 16 Uhr einberufen, um weitere Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der Krise zu beschließen. Anschließend will Seehofer die Öffentlichkeit über Beschlüsse des Ministerrats informieren. Seit dem 5. September kamen insgesamt mehr als 50.000 Asylsuchende am Münchner Hauptbahnhof an - weit mehr als der Freistaat Bayern im ganzen Jahr 2014 aufgenommen hat. Agenturen/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.