Heiße Eisen auf dem Lehrplan

Indien will mit neuen Lehrbüchern auch jüngste Geschichte zum Thema machen

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 3 Min.
Jüngere Geschichte stand bisher in indischen Schulen kaum auf dem Lehrplan. Mit neuen Schulbüchern, die jetzt erarbeitet werden, könnten ab 2007 auch einige politisch heiße Eisen im Unterricht behandelt werden.
Schon vom Ziel, dass jedes indische Kind wenigstens die Grundschule besuchen soll, ist das Land noch immer meilenweit entfernt. Doch selbst die, denen dieses Privileg zuteil wird, kommen oft in den Genuss von Bildung, die kaum diesen Namen verdient. In etlichen staatlichen und privaten Schulen, vor allem auf dem flachen Land, fehlt es am Notwendigsten und lassen die Lernmethoden arg zu wünschen übrig. Schlecht oder in pädagogischer Hinsicht überhaupt nicht ausgebildete Lehrer sehen sich nicht selten außerstande, den Kindern nachhaltig den Lehrstoff zu vermitteln. Und bisher trugen auch viele Schulbücher, gerade im gesellschaftskundlichen Bereich, zum Gesamtproblem bei. Teilung des kolonialen Britisch-Indien in einen mehrheitlich hinduistischen und einen mehrheitlich muslimischen Teil, die Geburtsstunde der Indischen Förderation und des neuen Staates Pakistan im August 1947 - damit beschäftigen sich die Mädchen und Jungen gerade noch. Doch selbst um die Entwicklungen vor knapp 60 Jahren ist vieles an historischen Ereignissen ausgespart. Die gewaltigen Fluchtbewegungen und wechselseitigen Pogrome an Angehörigen beider Volksgruppen, die sich plötzlich auf der »falschen« Seite der neuen Grenze fanden, werden höchstens noch am Rande erwähnt. Was heiße Eisen der neueren Geschichte aus den 70er, 80er und 90er Jahren angeht, so heißt es bei vielen Lehrbüchern sogar völlig Fehlanzeige. Dies soll sich nun ändern. Die umstrittene Notstandsgesetzgebung unter Indira Gandhi 1975 oder die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1992 durch einen aufgestachelten Hindu-Mob sind solche Ereignisse, die sich in der Neufassung des gedruckten Lehrmaterials für den Geschichts- und Sozialkundeunterricht plötzlich wiederfinden könnten. Womöglich gar die Gewaltwelle im Unionsstaat Gujarat 2002, die bei den größten religiös bedingten Ausschreitungen seit der Unabhängigkeit vor allem über 1000 Muslime das Leben kostete. Wie tief greifend und objektiv solche Themen behandelt werden, kann aber noch niemand sagen. »Die Sprache der Beiträge wird zensiert sein und mehr verdecken als offenlegen«, wird der Historiker Arup Banerjee mit einer kritischen Prognose zitiert. Er hält es für schwer vorstellbar, dass es die Schulbuchautoren schaffen, diese »heißen Eisen« in angemessener Weise darzustellen. Dabei steht er mit dieser eher düsteren Sicht keineswegs allein. Wer das indische Bildungswesen auch nur ein wenig kennt, der weiß, wie sehr Schüler und Lehrer in der Methodik auf Auswendiglernen von Daten, Namen und Fakten fixiert sind. Das Erfassen und Beurteilen von speziellen Ereignissen im Kontext historischer Entwicklungen, das Einbetten in größere Zusammenhänge und Ziehen von Querverbindungen bekommen die Kinder und Jugendlichen selbst in den höchsten Klassen nur selten beigebracht. So erscheint es fraglich, ob es gelingen kann, bisher rigoros Ausgespartes nun wenigstens ansatzweise in die politisch-geschichtliche Bildung der jungen Generation aufzunehmen. Zumal, je kürzer diese Ereignisse auf der Zeitleiste zurückliegen, selbst die Fachleute noch einen emotional aufgebauschten Streit um deren Bewertung führen und auch die aktuelle Politik beteiligt ist. So würde beispielsweise eine umfassende Darstellung der Ayodhya-Problematik manchen der heute führenden Oppositionsvertreter ins Zwielicht rücken und eine bis zum Tag sehr angeheizte politisch-religiöse Debatte in die Klassenzimmer der Schulen holen. Das zuständige Gremium von Fachleuten jedenfalls hat sich zumindest zu Themen und Kapiteln in den neuen Lehrbüchern geeinigt. Derzeit werden die einzelnen Texte verfasst. Darüber, wie lange am Ende noch über deren Inhalt, Tiefe und sprachliche Form diskutiert werden wird, wagt noch keiner eine Prognose abzugeben. »Es sind schwierige Themen«, räumte Professor Yogendra Yadav, der in der zuständigen Kommission sitzt, ein. »Das bedeutet aber nicht, dass wir sie einfach aussparen dürfen.«
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