Sinneswandel in Euro und Cent
Bundeskanzlerin beschreibt zutreffend ein globales Problem und öffnet ein wenig bereitwilliger die Geldbörse
Man fühlt sich an den radikalen Sinneswandel der Bundeskanzlerin nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 erinnert. Damals ging es um die Laufzeiten der Atommeiler, jetzt geht es um eine weltweite Flüchtlingskatastrophe. Das Problem hat Deutschland und damit nun in all seiner Dringlichkeit auch das Kanzleramt erreicht. In ihrer Regierungserklärung am Donnerstag nannte Angela Merkel die Dimension: Weltweit seien knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht. »Es braucht nur diese eine Zahl um zu verstehen, dass wir es nicht allein mit einer deutschen Herausforderung, auch nicht allein mit einer europäischen Herausforderung, sondern mit einer globalen Herausforderung zu tun haben.«
Doch während die Kanzlerinnenfraktion in Berlin brav Beifall klatschte, hatte ein Teil von ihr, die CSU-Landesgruppe, im heimischen Bayern kurz zuvor den Aufstand geprobt. Auf der Klausur im Kloster Banz war heftig über Merkel gewettert worden, die durch den zeitweiligen Verzicht Deutschlands auf die Dublin-Regeln die ungehinderte Einreise von Flüchtlingen ermöglicht hatte, die in Ungarn und Österreich festsaßen. Dem Vernehmen nach grenzten die Unmutsbekundungen der Bayern im Kloster an persönliche Diffamierung, so dass zuletzt Ministerpräsident Horst Seehofer persönlich moderierend einschritt, der doch selbst erst die Kritiklawine losgetreten hatte. Ein »totales Zerwürfnis« mit Merkel gebe es nicht, so Seehofer.
Wie radikal ist Merkels Sinneswandel wirklich? Nicht nur der Widerstand von Teilen der eigenen Fraktion lässt eine neue Asylpolitik der Bundesregierung zweifelhaft erscheinen. Auch die bereits bekannt gewordenen Pläne zu einer weiteren Reform des Asylrechts zeigen, dass die Regierungskoalition weiter jener Logik folgt, die die deutsche und EU-Migrationspolitik der letzten Jahre geprägt hat.
»Wer von Flüchtlingen redet, der darf von Kriegen, Drohnenterror und Waffengeschäften nicht schweigen«, sagte LINKE-Fraktionsvize Sahra Wagenknecht in der Debatte nach Merkels Regierungserklärung. Eine weitere Einschränkung des Asylrechts, Quoten oder Zäune würden das Flüchtlingsproblem nicht lösen. Die auf dem EU-Gipfel zugesagte Milliarde Euro zur Versorgung syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der Region sei »weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein«. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter nannte die von der EU beschlossene Umverteilung von 120 000 Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten unzureichend. »Da muss noch viel viel mehr erfolgen.« Hofreiter pflichtete Merkel bei, dass Fluchtursachen dringend bekämpft werden müssten. Wahr sei aber auch, dass sich Menschen in Westafrika auf den Weg nach Europa machten, weil ihnen mit »europäischem und deutschen Geld« finanzierte Fischfangflotten die Lebensgrundlage zunichte machten. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann forderte, die auf dem EU-Sondergipfel beschlossene eine Milliarde Euro zur Versorgung syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge müsste von den USA und den Golfstaaten verdoppelt werden.
Bei der Integration von Flüchtlingen in Deutschland geht es ebenfalls um viel Geld - Thema des Treffens der Kanzlerin mit den Ländervertretern am Donnerstag. Die Kommunen brachten laut »Handelsblatt« im ersten Halbjahr deutlich mehr Geld für Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz auf. Bundesweit legten diese Ausgaben in den 13 Flächenländern in den ersten sechs Monaten 2015 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 70 Prozent auf 1,2 Milliarden Euro zu, wie die Zeitung unter Verweis auf Daten des Statistischen Bundesamtes berichtete. Kein Wunder also, dass bereits vor dem Treffen hohe Erwartungen formuliert wurden. »Es ist klar, dass das Geld, das bisher vom Bund zugesagt wurde, definitiv nicht ausreicht«, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) am Donnerstag im RBB. Nötig seien 15 Milliarden Euro für dieses und das kommende Jahr. Merkel sprach im Bundestag vorsorglich von »weiteren notwendigen Beschlüssen« auch zur Entlastung der Länder. Über Ergebnisse des Treffens lagen bei Redaktionsschluss dieser »nd«-Seite noch keine Informationen vor. Mit Agenturen
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