In der Stadt der beigen Hosen
36 Geburten auf 100 Sterbefälle - nirgendwo in Deutschland ist die Quote so niedrig wie im Landkreis Osterode
Auf den ersten Blick wirkt alles recht normal an diesem sonnigen Tag in Osterode am Harz. Ein weißhaariger Rentner schlendert mit seiner blondierten Begleitung über den Kornmarkt. Im Café vor malerischen Fachwerkhäusern sitzen ältere Herrschaften. Sie tragen beige Hosen und graue Hemden. Bei Rentnern sieht man diese Kombination öfter. Eine Mittsechzigern in schwarzen Leggins und engem, pinken Kleid schiebt ihren Rollator vorüber.
Das Problem von Osterode: Hier wird wesentlich mehr gestorben als geboren. Der niedersächsische Landkreis hat nach den aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes die schlechteste Quote in ganz Deutschland: Nirgends sonst kommen pro Todesfall so wenige Kinder auf die Welt wie hier. Die Geburten decken die Sterbefälle nur zu 36 Prozent. Zum Vergleich: Beim Spitzenreiter München sind es 150 Prozent. Auch beim Durchschnittsalter ist der Kreis Osterode mit 43,5 Jahren (Datenbank Inkar, Stand 2012) im Keller der Statistik.
Tatsächlich fehlt im Stadtbild etwas: Es sind kaum junge Menschen unterwegs. Einige Kinder turnen am Natursteinbrunnen herum, Jugendliche und junge Erwachsene sind fast gar keine zu sehen. Was ist da los? Nachfrage im Rathaus, einem historischen Kornmagazin mit schöner Fassade und mächtigen Holzbalken auf den Fluren. »Die Jungen ziehen weg«, fasst Bürgermeister Klaus Becker (parteilos) die Situation zusammen. Ihre Kinder kriegen sie woanders.
Direkt am Kornmarkt ist das »Storchennest«. Seit 29 Jahren verkauft Inhaberin Helga Tabbert hier »alles fürs Baby und Kind«. Sie steht an der Kasse und klagt: »Nur noch alte Leute hier.« Ihr Geschäft leidet unter den niedrigen Geburtenzahl in der Stadt. »Es ist meistens leer«, sagt Tabbert.
Die kleine Stadt vor den Toren des Nationalparks Harz hatte nach Zahlen des Landkreises in den 1970er Jahren noch über 30 000 Einwohner, Ende 2013 waren es noch 22 317. Allein in den Jahren 2010 bis 2012 gingen insgesamt 484 Menschen mehr weg als zuzogen. »Der Trend ist im Moment Landflucht«, sagt Becker. Dabei suchen gerade die das Weite, die für Nachwuchs sorgen könnten.
Der Bürgermeister, in Outdoorhose und Freizeithemd, kann die Faszination für die Ballungsgebiete nicht nachvollziehen. »Ich kann fast nur Nachteile aufzählen, außer ich brauche großstädtisches Flair.« Der 55-Jährige war selbst lange weg, lebte unter anderem im texanischen El Paso. Doch Becker kam zurück. Wegen der hohen Lebensqualität, wie er erklärt.
Hier sei noch ein günstiges Eigenheim oder eine große Wohnung drin, sagt Becker, der seit elf Jahren der Stadt vorsteht. An vielen Türen hängen Schilder wie »Wohnung im 1. OG zu vermieten« oder »Geschäft geschlossen«. Auch Jobs seien nicht das Problem, es gebe einen deutlichen Pendlerüberschuss. Die Stadt sucht sogar auf einer Jobmesse in den Niederlanden nach Arbeitskräften.
Gut, es gebe keine Diskothek, und das Kino habe geschlossen. Ein Graffito prangt am »Osteroder Lichtspielhaus«, das vor sich hin rottet: »Wir wollen Kino! Sofort! Free Willy z.B.« Dafür gebe es eine rege Musikszene, eine Mountainbike-Arena und viel Natur, zählt Becker auf. »Was macht Osterode denn so langweilig?«
Aber ist das Problem tatsächlich, dass junge Menschen Großstädte einfach cool und das Leben auf dem Land schlicht fad finden? Ein Anruf beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden: »Die Antwort auf diese Frage ist, wie alles in der Wissenschaft, etwas komplexer«, sagt der Demografie-Experte Frank Swiaczny.
Früher, so Swiaczny, habe es einen typischen Zyklus bei den Wanderungsbewegungen gegeben. Zur Ausbildung und zum Studium gingen junge Menschen in die Ballungsräume. Als junge Familie zogen sie dann häufig aufs Land. Mittlerweile machen immer mehr junge Menschen Abitur und gehen zum Studium weg. Neu ist laut Swiaczny zugleich aber auch, dass weniger Menschen anschließend zurückziehen.
Warum? »Das ist ein großes Konglomerat an Ursachen.« Das Leben auf dem Land sei für viele nicht einfach uncool, sondern eher unpraktisch und stehe einem bestimmten Lebensstil entgegen, erklärt Swiaczny. So sei es im urbanen Raum für Paare einfacher, zwei Karrieren und Kinder miteinander zu koordinieren. Die Wege seien kürzer und die Angebote an Jobs oder zur Kinderbetreuung vielfältiger.
Der Bevölkerungsrückgang hat Folgen. Den ländlichen Kommunen gehen Einnahmen verloren. »Irgendwann lohnen sich bestimmte Dienstleistungen nicht mehr«, sagt Swiaczny. Schwimmbäder würden geschlossen, Bankfilialen machten dicht, der öffentliche Nahverkehr werde ausgedünnt. »Und die F-Jugend des Fußballvereins hat schlicht zu wenige Spieler.«
Die Stadt Osterode reagiert auf ihre alternde und schrumpfende Bevölkerung, es gibt eine eigene »Stabsstelle Demografie«. In den vergangenen zehn Jahren seien vier von neun Grundschulen geschlossen worden. Außerdem wurde ein Becken der Kläranlage geschlossen, die Kanalisation rückgebaut. »Die Rohrleitungen, die verbuddelt worden sind, sind auf entsprechend viele Leute angelegt«, sagt Becker.
Die um Nachwuchs kämpfenden Ortsfeuerwehren locken die Kleinen mit einer Art Kinderfeuerwehr. Es gebe auch Vorteile, sagt Becker. Eine hervorragende Altenpflegeschule sei am Ort. »Die hätten wir nicht, wenn wir diese demografische Entwicklung nicht hätten.«
Nur wenige Schritte entfernt vom Osteroder Kornmarkt hat Sabine Ciossek ihren Laden. Särge und bunte Urnen stehen dort herum. Die Bestatterin stellt fest, dass immer mehr Osteroder ihr Begräbnis selbst organisieren. »Hier merkt man, dass viele Ältere für sich selber vorsorgen, weil niemand anderes mehr da ist. Die Kinder sind weg«, sagt Ciossek. Vor zwei Jahren ist sie mit ihrem Bestattungsinstitut ausgerechnet in einen Laden gezogen, indem vorher ein Spielzeuggeschäft war.
Die meisten Senioren wollen laut Ciossek zudem nicht in einem herkömmlichen Grab beerdigt werden. Sie entscheiden sich für eine anonyme Bestattung, bei der höchstens noch eine kleine Metallplakette am Rande des Gemeinschaftsgrabes auf den Toten hinweist. Der Grund: »Es ist keiner mehr da, der sich drum kümmert. Keiner möchte unter einer ungepflegten Grabstätte liegen.«
Bürgermeister Becker will nicht lamentieren, sondern positiv denken. »Sonst müsste ich aufgeben.« Allerdings weiß er auch, dass die demografische Entwicklung nicht aufzuhalten ist. Nach einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung wird der Kreis Osterode in den kommenden 15 Jahren noch einmal 15,6 Prozent seiner Einwohner verlieren. Becker sagt: »Wir sind Realisten und stellen uns darauf ein.«
Frischgebackene Abiturienten bekommen in Osterode vom Bürgermeister einen Brief. Darin heißt es: »Die meisten von Ihnen werden Osterode am Harz zunächst verlassen und in einer anderen deutschen Stadt oder auch im Ausland Ihren nächsten Lebensabschnitt verbringen.« Er, Becker, sei mit voller Überzeugung nach Osterode zurückgekommen, weil es sich dort sehr gut leben lasse. »Möglicherweise zieht es Sie ja auch später einmal wieder nach Osterode zurück.« dpa/nd
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