Worüber Homer schwieg
Kampf um Troja mit den Münchener Ägineten im Alten Museum
»Thorvaldsen allein verdient schon, dass man nach Rom komme … Von den äginetischen Statuen müsste ich Ihnen viele Bogen schreiben … Göttlich hat Thorvaldsen sie restauriert«, schreibt Caroline von Humboldt, die Frau von Wilhelm von Humboldt, im Juni 1817 begeistert an den Archäologen Friedrich Gottlieb Welcker. Beim so Gelobten handelte es sich um den berühmten dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen (1770-1844), die Objekte der Bewunderung waren antike Statuen von einem Tempel auf Ägina. Ägina, eine kleine Insel auf halbem Wege zwischen Athen und der gegenüberliegenden Küste des Peloponnes im Saronischen Golf gelegen, war seit der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. eine wichtige Handels- und Seemacht. Der Seehandel bis nach Kleinasien und Ägypten brachte Reichtum und Macht. Hier wurden um 580 v. Chr. die ersten Münzen im griechischen Mutterland mit einer Schildkröte auf der Vorderseite geprägt. Äginetische Kriegsschiffe hatten entscheidenden Anteil am Sieg der Griechen über die Perser 480 vor Salamis. Doch danach entledigte sich das aufstrebende Athen der unliebsamen Konkurrenz: 459 musste Ägina die Flotte ausliefern und seine Mauern niederlegen.
Auf einer felsigen Bergkuppe an der Nordostküste liegt das Heiligtum der Göttin Aphaia. Um 570 wurde dort ein erster Tempel erbaut, der bald darauf durch einen Brand zerstört wurde. Um 500 v. Chr. errichtete man einen Neubau aus Kalkstein, an dessen Schmalseiten im Westen und Osten die Giebel mit Marmorstatuen geschmückt waren.
Die Ruinen dieses Tempels waren schon im 18. Jahrhundert durch Zeichnungen bekannt. Diese im Gepäck besuchte eine Gruppe junger Architekten im April 1811 die Insel, um den Tempel zu vermessen und dessen Umgebung zu untersuchen. Schon am zweiten Tag kamen Fragmente der Giebelskulpturen zutage. Der Besuch weitete sich zur ersten wissenschaftlichen Ausgrabung in Griechenland aus. Die Architekten, unter ihnen der Deutsche Carl Freiherr Haller von Hallerstein und der Engländer Charles Robert Cockerell, hielten die genauen Fundorte präzise in ihren Tagebüchern fest und fertigten zahlreiche Zeichnungen an. Am 1. November 1812 erwarb der bayerische Kronprinz Ludwig auf einer Auktion die sogenannten »Ägineten«. Da er in der geplante Glyptothek keine zerbrochenen Statuen zeigen wollte, erhielt Thorvaldsen den Auftrag, die Statuen zu restaurieren und dem damaligen klassizistischen Geschmack entsprechend zu ergänzen. Bis 1818, entstanden in seiner Werkstatt in Rom zehn Skulpturen des Westgiebels und fünf des Ostgiebels neu. Im Dezember 1827 wurden sie im Rohbau der Glyptothek aufgestellt. Schon damals wurde Kritik an den Ergänzungen laut. Die Diskussion über die Deutung und Anordnung der Skulpturen dauert an.
Während der Neugestaltung des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Münchener Museums ließ Dieter Ohly 1963 bis 1965 alle klassizistischen Ergänzungen beseitigen. Jahre später aber erstanden die Thorvaldsenschen Ägineten aufs Neue. In Vorbereitung auf das 200-jährige Jubiläum der Entdeckung der Skulpturen 2011 wurden von den Originalen Kunstmarmorabgüsse angefertigt. Die klassizistischen Ägineten sind als eigenständige Kunstwerke ihrer Zeit wieder auferstanden und werden in München der heutigen Anordnung der originalen Giebelgruppen gegenübergestellt. Die Unterschiede sind eklatant.
Jetzt sind die Ägineten in der Rotunde des Alten Museum in Berlin ausgestellt. Hier stehen sie den ebenfalls im frühen 19. Jahrhundert ergänzten griechisch-römischen Götterstatuen der Berliner Sammlung gegenüber. Tempel und Skulpturen waren einst bunt bemalt, was der Besucher allerdings nur noch erahnen kann, da einige Farbspuren in den letzten Jahren nachgezeichnet worden sind. Der reich bebilderte Münchener Katalog berichtet darüber, wie auch über die Entdeckung und den Ankauf der Ägineten sowie die Diskussion um die Benennung der einzelnen Kämpfer.
Die Berliner Ausstellung präsentiert desweiteren Grabungsskizzen, Fund- und Rekonstruktionszeichnungen von Haller und Cockerell. Die Zeichnungen des früh verstorbenen Hallers galten lange als verschollen; erst in den 1990er Jahren wurden sie in der Berliner Kunstbibliothek aufgefunden und nun mit den Skulpturen wieder vereint.
Schon die Ausgräber hatten die Giebelszenen inhaltlich mit dem Trojanischen Krieg in Verbindung gebracht. Im letzten Raum des Rundganges, im Obergeschoss, präsentiert die Antikenabteilung Stücke aus der eigenen Sammlung. Auf Amphoren, Schalen oder Bechern findet man Szenen, die aus den Gesängen der »Ilias« bekannt sind. Andere Darstellungen geben das von Homer beschriebene Kriegsgeschehen nur allgemein wieder. Eine Amphore des Chiusi-Malers zeigt, dass sich müde Kämpfer abends nach der Schlacht erholen müssen: Achilleus und Aias sind ins Brettspiel vertieft. Auf einer Schale des Sosias-Malers verbindet Achilleus seinen verletzten Freund Patroklos. Über solch banales Geschehen am Rande des großen Krieges und den unspektakulären Alltag seiner Helden hat Homer nicht berichtet.
Interessant sind auch die hier erstmals gezeigten Darstellungen des berühmten Trojanischen Pferdes. Auf einem Relief sieht man, wie die Griechen das hölzerne Pferd zimmern; ein Krieger schaut durch eine Öffnung im Pferderumpf heraus. Einen römischen Sarkophagdeckel zieren zwei Trojaner, die das mit Rollen versehene Pferd an einem Seil in die Stadt ziehen. Einzigartig ist eine kleine bemalte Tonscherbe, auf der der Ausstieg griechischer Krieger aus dem Pferd dargestellt ist.
»Kampf um Troja. Die Münchener Ägineten mit den Ergänzungen Thorvaldsens«, Altes Museum Berlin, bis 16. Juni 2016. Katalog: »Kampf um Troja. 200 Jahre Ägineten in München« (Kunstverlag Josef Fink, 20 €).
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