»Was sie auf den Schultern tragen, ist schwer«

Der Schriftsteller Rafik Schami über Flüchtlinge in Deutschland und darüber, wie ihre Integration gelingen kann

  • Lesedauer: 8 Min.

Herr Schami, »Meine Religion ist die Liebe«, schreiben Sie in Ihrem neuen Roman »Sophia oder Der Anfang aller Geschichten«. Wie beurteilen Sie es, dass, betrachtet man die augenblickliche Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge, die religiöse Zugehörigkeit für viele Deutsche keine Rolle zu spielen scheint?

Auf meinen vielen Veranstaltungen traf ich wunderbare Deutsche, die sich selbstlos für Flüchtlinge einsetzen, und da können Sie sicher sein, dass die Liebe sie dazu geleitet hat. Sie suchten niemals einen Vorteil für sich, sondern wollten diesen armen Menschen helfen. In solchen Augenblicken ist es dem Liebenden gleichgültig, welcher Religionsgemeinschaft er oder der Flüchtling angehören.

Sie selbst wurden in Syrien verfolgt - wie ließe sich Ihrer Meinung nach die Vertreibung von dort eindämmen oder gar verhindern?

Das ist genau der entscheidende Punkt, den die europäischen Politiker seit Ausbruch des Aufstands gegen den Diktator vermieden haben zu diskutieren, geschweige denn, von ihm geleitet zu handeln. Manchmal vernebelt die Diskussion um die Flüchtlinge die Tatsachen. Deshalb muss man ein paar Eckdaten der Misere deutlich nennen. Diese Flüchtlinge kommen nicht aus dem Meer, sondern aus Syrien. Man ließ Länder wie die Türkei, Jordanien und den Libanon, die zusammen circa vier Millionen Flüchtlinge aufnahmen, im Stich. Man ließ die Mörder auf die friedlichen Demonstranten schießen und Giftgas auf Zivilisten werfen. Und heute? Sind wirklich nur die Russen und Iraner die Schurken? Man weiß, dass Katar Terroristen finanziert - in Katar sitzt die größte US-Geheimdienstzentrale im Ausland -, Nuri al Maliki schickte als irakischer Ministerpräsident unter Aufsicht der Amerikaner seine Mörderbanden nach Syrien. Der Libanon, der seit dem Zweiten Weltkrieg nie eine Entscheidung ohne Genehmigung Frankreichs und der USA treffen durfte, lässt Truppen der Hisbollah über die Grenzen gehen und Syrer in ihren Dörfern umbringen. Solange eine solche Heuchelei im Westen »Politik« genannt wird, wird es immer syrische Flüchtlinge geben.

Sie kritisieren auch das Clan-System arabischer Gesellschaften. Hatte der sogenannte Arabische Frühling dagegen eine Chance?

Ja, der Aufstand hatte eine große historische Chance, weil diese mutigen Demonstranten ihre Sippen, ihren Clan nicht um Genehmigung gefragt haben und weil das Ziel die Errichtung einer Republik war, die die Würde und Freiheit der einzelnen anstrebt und die Demokratie als Herrschaftssystem wollte. Dies wäre die Todesstunde der Sippe. Aber der Aufstand wurde in allen Ländern abgewürgt.

Sie leben seit 1971 in Deutschland. Wie hat sich Ihres Erachtens Deutschland im Umgang mit Zuwanderern gewandelt?

Die deutsche Gesellschaft ist offener geworden gegenüber Fremden, aber die Politiker haben bis heute keine richtige Vorstellung davon, was man von den Fremden will, vor allem nicht davon, wie man mit ihnen umgeht. Auch europaweit herrscht Chaos. Das erstaunt mich angesichts der Heere von Experten und hochdotierten Beratern ebenso wie US-Präsident Barack Obama, der gegen den IS nichts zustande brachte außer den Einsatz von Drohnen.

In Ihren Erzählungen und Romanen entwerfen Sie ein freundliches Bild des Orients. Man hat Ihnen deshalb mitunter Verklärung vorgeworfen. Basiert Ihr Orientbild überhaupt auf der Realität oder geht es um die Utopie einer toleranten Gesellschaft?

Wer das sagt, hat meine Bücher noch nicht gelesen und übernahm die gehässige Stichelei einiger Islamwissenschaftler, gescheiterter Übersetzer und Orientalisten, die mir seit Mitte der 80er Jahre den Krieg erklärten, weil ich sie dabei ertappte, dass sie mit den Kultusministerien der Diktaturen arbeiten. Die Ministerien sind, wie ein Kollege von mir es formulierte, die »kulturelle Abteilung des Geheimdienstes«. Diese Gegner verlängern im Hauptberuf den Arm der Diktatur. Von Literatur haben sie keine Ahnung. Was bleibt ihnen anderes übrig, als einem Exilautor hier auf Deutsch die Beschönigung des Orients vorzuwerfen und in Damaskus in antisemitischer Weise zu behaupten, ich hätte meine Erfolge weltweit, weil ich das Bild Syriens schlecht mache, um Juden zu gefallen? Diese Doppelzüngigkeit habe ich dokumentiert.

Vor gut zehn Jahren haben Sie mit Ihrem Buch »Die dunkle Seite der Liebe« eine Geschichte Syriens vom Osmanischen Reich bis in die 70er Jahre geschrieben. Denken Sie über eine Fortsetzung nach?

Meine Bücher setzen einander nicht fort, sondern ergänzen das Gemälde, das ich versuche zu malen. Jeder Autor malt sein Leben lang an einem einzigen Bild.

Aus Ihren Büchern und Auftritten spricht eine tief empfundene Humanität. Wirkt diese momentan in Deutschland?

Ich bin zutiefst dankbar gegenüber Deutschland, dem Land, das mich aufnahm und mir eine Sprache schenkte, durch die ich - in Übersetzung - viele Menschen auf der Welt erreiche. Ja, Deutschland hat sich verändert, und die Deutschen nehmen viel sensibilisierter fremde Kulturen und Werte zur Kenntnis. Das Mitleid hierzulande für überwiegend syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ist enorm und verblüffend im Vergleich mit der langen Gleichgültigkeit gegenüber afrikanischen Bootsflüchtlingen etwa auf Lampedusa.

Befürchten Sie ein Abflachen des Engagements?

Es ist nicht richtig, Flüchtlinge in Deutschland mit Flüchtlingen auf Lampedusa zu vergleichen. Hier gibt es nun eine Euphorie, die naturgemäß bald etwas ruhiger wird, und das wünsche ich uns, dass wir nüchtern und verbindlich Fragen stellen, was eine Gesellschaft kann und was nicht. Und wie und was soll man den Flüchtlingen vermitteln? Je organisierter, systematischer, geduldiger und rationaler wir diese humanitäre Hilfe leisten, umso besser wird es uns und den Flüchtlingen gehen.

Sie leben seit langem in Deutschland und kennen die Entwicklungen hierzulande aus eigener Erfahrung. Wozu würden Sie raten, wenn es um das Gelingen von Integration geht?

Zu der Haltung, den Fremden mit Respekt zu behandeln. Und im gleichen Atemzug von ihm zu verlangen, Respekt gegenüber dem Gastgeber, dessen Kultur, Religion und Gesetzen zu zeigen. Die Überzeugung: Deutschland ist keine Insel der Glückseligen und kein goldener Turm, sondern ein Land, das filigran mit der ganzen Welt verbunden ist, auch mit deren Elend. Die finanziellen Anreize reduzieren, die keinen Flüchtling interessieren, sondern nur eine egoistische Minderheit unter ihnen. Dafür großzügig und dynamisch den Spracherwerb fördern und ihn nicht einzig den privaten Initiativen überlassen. Die Sicherheit der Flüchtlinge vor Übergriffen der Rassisten ernstnehmen. Diese Menschen brauchen Ruhe und Frieden. Es geht nicht an, dass sich ein paar Rassisten zum Staat im Staat erheben. Das ist keine Politik, sondern ein Verbrechen. Es geht auch nicht, dass die Religion dieser Menschen Tag und Nacht beleidigt wird. Als ob wir in Deutschland keine andere Aufgabe mehr haben, als den Islam zu beschimpfen.

Die Flüchtlinge, die gerade in Deutschland aufgenommen werden, werden mit völlig neuen Werten des Zusammenlebens konfrontiert. Wie lässt sich eine solche Kulturschockerfahrung auffangen?

Es ist sehr schwer, diese wunderbar komplexe Frage kurz zu beantworten. Ihr würden ganze Doktorarbeiten nicht gerecht. Hier mein verzweifelter Versuch: Was ein Flüchtling auf den Schultern trägt, ist unglaublich schwer. Die Belastung durch den Krieg, die Flucht und der Verlust aller Werte, die man sich ein ganzes Leben erarbeitet hat, die Demütigungen, die man erfährt, die Angst, die durch die Schutzlosigkeit und Desorientierung entsteht, das bittere Gefühl, dass die Menschen im neuen Land einen verachten und ablehnen - auch wenn das manchmal real nicht stimmt -, die Werte der neuen Gesellschaft sind nicht völlig neu, aber die Werteskala steht plötzlich auf dem Kopf. Viele Flüchtlinge machen zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, eine Minderheit zu sein. Das ist hart, und es erzeugt automatisch Heimweh und führt in der Regel zu einer übertrieben stolzen Ablehnung der neuen Heimat. Am Ende kann das zu Passivität der Flüchtlinge führen, auch gegenüber gut gemeinten Maßnahmen, die ihnen helfen.

Nämlich?

Wir wissen inzwischen viel über den Kulturschock, seit die Anthropologin Cora DuBois in den 50er Jahren dieses Phänomen untersucht hat. Nach der Phase der durch die Errettung ausgelösten Euphorie kommt die Ernüchterung, und der folgt mit Sicherheit eine Einigelung, die zur Isolation führt. Hier können Helfer, die aus dem Kulturkreis stammen und längst in Deutschland integriert sind, große Dienste leisten, um den Flüchtlingen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Um ihnen zu helfen, kritisch über die eigene Kultur nachzudenken, offen den Eigenheiten der deutschen Kultur zu begegnen, ohne Glorifizierung oder Verdammung - ohne dass sie als besser oder schlechter gesehen werden als die Eigenheiten der syrischen Gesellschaft, nur eben als anders. Den Flüchtlingen zu helfen, dass sie aufhören mit dem Schwarz-Weiß-Vergleich zwischen dort und hier, ihnen die notwendigen Sprachkenntnisse beizubringen, ihnen mit Humor über eingebildete oder erlebte Niederlagen hinwegzuhelfen. Ihnen zu erklären, dass man hier nach den Gesetzen der Gastgesellschaft lebt und nicht nach denen der Herkunftsländer, ihnen zu versichern, dass sie hier, soweit es geht, geschützt sind durch den Respekt, der ihnen im Grundgesetz garantiert ist.

Was heißt das konkret?

Die Behörden müssen strengstens dafür sorgen, dass Islamisten und Rassisten gar keine Möglichkeit bekommen, die Flüchtlinge zu manipulieren und ihr Elend auszunutzen und zu missbrauchen. Dies ist ein Gebot der Freiheit und eine Verpflichtung der Demokratie. Vor allem aber darf niemand die Islamisten naiv unterschätzen. Bei all dem müssen die Helfer nüchtern bleiben und keine hohe Erwartung stellen. Und ich bin sicher, dass sie mit Kindern und Jugendlichen sehr gute Ergebnisse erzielen.

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