Rumms, da geht die Pfeife los!
Vor 150 Jahren erschien der Kinderbuchklassiker »Max und Moritz« von Wilhelm Busch
Friedlich mutet die Szene an, in der dieser brave Schneider sich abends aufs Ohr hauen will: »Bald zu Bett geht Onkel Fritze. / In der spitzen Zippelmütze; / Seine Augen macht er zu, / Hüllt sich ein und schläft in Ruh.« Welches Unglück sich ereignen muss, schwant beim Lesen dieser leichtfüßigen Verse nicht nur dem, der weiß, dass zuvor zwei Lausbuben namens »Max und Moritz« munter Maikäfer von einem Baum geschüttelt und sie dem armen Kerl ins Schlafgemach gesteckt haben.
In Kombination mit den schrillen Karikaturen, als die der Autor sämtliche Figuren in seinen Zeichnungen charakterisiert, läuft alles auf diese naheliegende, aber notwendige Pointe hinaus: »Doch die Käfer, kritze kratze! / Kommen schnell aus der Matratze. / Schon fasst einer, der voran, / Onkel Fritzens Nase an. / ›Bau!!‹ schreit er - ›Was ist das hier?!‹ / Und erfasst das Ungetier. / Und den Onkel, voller Grausen, / Sieht man aus dem Bette sausen.« Wer verstehen will, warum Wilhelm Buschs Klassiker bis heute weltweit zu den meistgelesenen Kinderbüchern zählt, der muss sich nur lange genug mit diesem fünften von sieben Streichen der pampigen Jungs befassen. Nirgends sonst in diesem Meisterwerk tritt das Erfolgsrezept des Dichters so klar zutage: ein unbändiges Tempo in der Sprache, das umgesetzt wird in die entsprechende grafische Dynamik. Wie der Onkel Fritz seine Decke wild wegschleudert und wie im Zimmer das Viehzeug umherflitzt, das gilt namhaften Comicautoren von Ralf König bis hin zu Marvel-Zeichnern noch immer als Inspirationsquelle.
Dabei war dieser Wilhelm Busch alles andere als ein mondäner Künstler. Seine Strichführung erscheint ausnehmend lässig, sein Lebensstil dagegen eher dröge. Er galt als eigenbrötlerischer Griesgram. Fast sein gesamtes Leben brachte der 1832 im niedersächsischen Wiedensahl geborene Autor in ländlichen Pfarrhäusern. So erklärt sich die Brutalität, der er ungeniert viel Raum gewährte. Ständig wird hier irgendwer windelweich geprügelt. Besonders »Max und Moritz«, das im Oktober 1865 erschien, zeichnet sich durch seine Darstellung des Prügelprogramms preußischer Pädagogik aus, unter dem Busch selbst litt.
Er schrieb und pinselte mit dem brachialen Buch über die beiden bösen Buben also zuvorderst gegen eine piefige Gesellschaft an. Sie mit seiner Kunst zu überwinden, sah er sich außerstande; als Ersatz für eine Psychotherapie mag sie ihm aber sein Leben bis zum 77. Lebensjahr verlängert haben.
Busch selbst nannte sein berühmtestes Werk »gnadenlos komisch«. Treffender lässt sich tatsächlich nicht beschreiben, was er da vor 150 Jahren zu Papier brachte. Der protestantisch-militärische Drill, in dem Kinder im sich gerade etablierenden neuen Schulsystem erzogen wurden, machte Busch zornig. Die Kindheit definierte sich damals über kaum mehr als die Abrichtung zum bedingungslosen Gehorsam, gegen den Max und Moritz aufbegehren.
Dem linientreuen Lehrer Lämpel füllen sie im vierten Streich Schwarzpulver in die Meerschaumpfeife, und das Ungemach nimmt seinen Lauf: »Eben schließt, in sanfter Ruh / Lämpel seine Kirche zu. / Und voll Dankbarkeit sodann / zündet er sein Pfeifchen an. / Rumms, da geht die Pfeife los / Mit Getöse schrecklich groß!«. Laut und grell explodiert das Rauchgut, und Buschs Illustration ist das ikonografische Urbild der »Boing-Peng«-Poesie, wie sie später der Pop-Art-Künstler Roy Lichtenstein bekannt machen sollte.
Lässt sich in dem wenige Jahre zuvor erschienenen und nicht minder brutalen »Struwwelpeter« auf jeder Seite der moralinsaure Appell an die lieben Kleinen herauslesen, doch bitte immer schön brav zu sein, nimmt Busch als einer der ersten Kinderbuchautoren die Perspektive seiner jüngsten Leser ein. Er wollte sie unterhalten und in ihnen das Bewusstsein wecken für die Verkommenheit der banal klingenden und brutal sich auswirkenden Regeln, denen die Erwachsenenwelt folgt.
Buschs idyllischer Rückzugsort lag jenseits des Heimatdorfes bei seinem Onkel in Ebergötzen. Dort freundete er sich mit dem gleichaltrigen Müllersohn Erich Bachmann an - und erlebte die schönsten Tage seiner Kindheit. Im vorsichtigeren Moritz mit dessen Haarwirbel verewigte sich Busch selbst. So wenig moralisch und doch brennend parteiisch, wie es nachher im deutschsprachigen Raum nur noch Erich Kästner gelingen sollte, verarbeitete Busch in »Max und Moritz« sein eigenes Heranwachsen und nahm dabei die Kinder in Schutz gegen diese wahnsinnigen Erwachsenen, denen bis heute allzu oft zur Konfliktlösung nur Gewalt einzufallen vermag.
Denn selbstverständlich sind sie es, die den beiden unerbittlich den Garaus machen. Am Ende schnappt sich Meister Müller das Duo und dann: »Rickeracke! Rickeracke! / Geht die Mühle mit Geknacke. / Hier kann man sie noch erblicken / Fein geschroten und in Stücken. / Doch sogleich verzehret sie / Meister Müllers Federvieh.«
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