»Es war ein ganz, ganz schwarzer Tag«

Ensaf Haidar kämpft um das Leben ihres Mannes, des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi

  • Lesedauer: 11 Min.

Eine tiefe Traurigkeit umhüllt sie. Ruhig und gefasst antwortet sie auf die Fragen. Nur zwei Mal huscht ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht, in der nächsten Sekunde bereits verflogen, so als schäme es sich, in eine Welt des Schmerzes eingedrungen zu sein.

Ensaf Haidar ist die Frau des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, der 2012 verhaftet und zwei Jahre darauf wegen Apostasie, »Beleidigung des Islam«, zu zehn Jahren Haft, tausend Peitschen- hieben sowie einer Geldstrafe von etwa 194 000 Euro verurteilt worden ist. Am 9. Januar dieses Jahres wurde mit der Vollstreckung der lebensbedrohlichen Körperstrafe begonnen. Nach seiner ersten öffentlichen Auspeitschung mit 50 Stockhieben war er so schwer verletzt, dass die Fortführung durch Anordnung des Gefängnisarztes verschoben wurde. Die tödliche Strafe kann jederzeit wieder aufgenommen werden.

Ensaf Haidar lebt heute mit ihren Kindern in Kanada. Karlen Vesper sprach mit der zierlichen wie tapferen Frau des weltbekannten Bloggers, der für den diesjährigen Friedensnobelpreis nominiert war, in Berlin anlässlich des Erscheinens von Haidars Buch »Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens« (Bastei Lübbe, 256 S., geb., 19,99 €)

Frau Haidar, Sie haben Ihren Mann per Handy kennengelernt. Er wählte versehentlich Ihre Nummer und verliebte sich sogleich in Ihre Stimme. Aber Sie haben ihn erst einmal »zappeln« lassen, sind bei folgenden Anrufen nicht ans Handy gegangen - bis die Neugier obsiegte?
In Saudi-Arabien ist es Frauen ganz strikt verboten, mit Männern zu telefonieren, geschweige denn mit Fremden. Über zwei Jahre konnte ich nur heimlich, wenn ich mir sicher war, von meiner Familie nicht beobachtet zu werden, mit meinem späteren Mann sprechen.

Anfangs haben Ihre beiden Schwestern geholfen, den Kontakt zu Raif aufrechtzuerhalten. Später aber haben auch sie Ihre Liaison nicht gutgeheißen und es kam zum Bruch. Haben Sie keinerlei Kontakt mehr miteinander?
Nein. Leider gibt es keinen Kontakt mehr, weder mit den Schwestern noch mit meinen Eltern und Brüdern.

Im arabischen Kulturkreis ist die Großfamilie heilig. Wie verkraften Sie es, auf sich allein gestellt zu sein - mit drei Kindern?
Ich werde jetzt nicht lügen und sagen, dass mir das überhaupt nichts ausmacht. Aber ich musste mich entscheiden - für Raif und mich oder die Familie. Ich habe beschlossen, dass ich ich sein möchte - als Mutter, als Gattin und als unabhängige Frau, die ihre eigenen Entscheidungen trifft, ohne einen Vormund. In Saudi-Arabien müssen Frauen ihr Leben lang, von der Wiege bis zur Bahre, einen Vormund ertragen.

Den Kindern haben Sie lange vorenthalten, dass ihr Vater eingesperrt und zu einer grausamen, unmenschlichen Strafe verurteilt ist. Mittlerweile wissen sie es. Sind sie stolz auf ihren Vater oder eher unglücklich, dass er so viel riskierte?
Sie sind sehr stolz auf ihren Vater, aber gleichzeitig vermissen sie ihn auch sehr. Und wie Kinder eben so sind, sagen sie in ihrer Sehnsucht dann auch Dinge wie: »Hätte Papa nicht warten können, bis er im Ausland ist ...?« In der gleichen Minute schmerzt sie ihr Vorwurf. Seit vier Jahren wachsen sie ohne ihren Vater auf. Das tut im Herzen weh.

Ihre Kinder sind noch Teenager, da brauchen sie den Vater umso mehr.
Die Älteste, Nedschua, ist zwölf, Dodi elf und Miriam acht. Man braucht seine Eltern eigentlich ein Leben lang. Auch ich erlebe manchmal Momente, in denen ich mir wünsche, meine Eltern wären bei mir.

Bereuten Sie mitunter, dass sich Ihr Mann so offen für Liberalisierung, Menschenrechte und Freiheit in Saudi-Arabien engagierte?
Nein, ich bereue das keine Sekunde. Denn Raif wäre nicht Raif, nicht der Mann, den ich liebe.

Sie sind erst durch Raif politisiert worden?
Ja, tatsächlich habe ich eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Ich habe mich vorher nicht wirklich für Politik interessiert. Dann aber wollte ich teilhaben am Netzwerk, das Raif aufgebaut hat und begann selbst Artikel zu verfassen.

Und schließlich kam es zu Situationen, da Sie ihn puschten, ihn ermunterten, nicht aufzugeben. Und zuvor haben Sie ihn sogar »erziehen« müssen. Anfangs benahm er sich Ihnen gegenüber, wie es in saudi-arabischen Familien üblich ist. Was in Kontrast zu seinem Einsatz für die Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Frau stand.
Ja, denn man muss auch leben, wofür man sich einsetzt. Sonst ist man nicht authentisch.

Das Private ist politisch und das Politische ist privat.
Wenn man im privaten Leben das Gegenteil dessen praktiziert, worüber man in der Öffentlichkeit schreibt, ist man unglaubwürdig und erreicht die Menschen nicht.

Als Sie erstmals entdeckten, was Ihr Mann im Netz treibt, waren Sie da erschrocken? Hatten Sie Angst um ihn, sich und die Kinder?
Mich hat nie geängstigt, was Raif tat oder schrieb. Es ist sein Recht gewesen, seine Meinung zu äußern. Er kannte auch seine Grenzen. Ja, er hat gesellschaftliche Zustände kritisiert. Aber Kritik ist wichtig, um voranzukommen. Tatsächlich war es dann für uns beide ein Schock, mit welcher Härte der Staat reagierte. Damit haben wir nicht gerechnet. Schließlich hat die Presse in Saudi-Arabien ja auch Raifs Gedanken gedruckt. Und sie ist eigentlich dafür bekannt, nichts zu veröffentlichen, was regimekritisch ist. Deswegen kam das alles sehr unerwartet über uns.

Die Repressalien folgten gestaffelt.
Zuerst kam das Reiseverbot, dann durfte Raif unsere Tochter Miriam nicht ins Familienbuch eintragen lassen. Das Konto wurde eingefroren. Wir wollten gemeinsam ausreisen. Raif sagte dann: »Fahrt ihr schon mal vor.« Er wollte uns schnellstens in Sicherheit wissen.

Sie erfuhren in Libanon von der Verhaftung, weil sich an seinem Handy ein fremder Mann meldete.
Ein Polizist, der bei bei der Verhaftung Raifs Handy beschlagnahmt hatte.

Warum ist das System in Saudi-Arabien so rückwärtsgewandt? Eine Reaktion auf den sich ausbreitenden Islamismus? Es gab doch schon mal moderatere Zeiten?
Die Geschichte Saudi-Arabiens ist ganz stark mit der Familie Saud verknüpft. Sie hat sich, so glaube ich, nicht groß gewandelt. Nach meinen Kindheitserinnerungen scheint mir das Leben früher jedoch irgendwie einfacher gewesen zu sein. Vielleicht trügt der Eindruck. Seit etwa 15 Jahren hat man aber tatsächlich das Gefühl, dass der religiöse Fundamentalismus stark zugenommen hat. Auf einmal ist alles »Haram«, was man machen möchte.

Haram - also mit einem Tabu belegt, nach der Scharia verboten, weil »verflucht« und »fluchbeladen«. Darf man fragen, wie Sie es mit der Religion halten? In Libanon schickten Sie Ihre Kinder auf eine katholische Privatschule - ein Frevel bei strenggläubigen Muslimen.
Religion ist für mich der Umgang mit anderen Menschen, wie man sich ihnen gegenüber verhält. Ich habe unsere Kinder in diese katholische Schule geschickt, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, alle Religionen Gottes kennenzulernen. Daran kann ich nichts Frevelhaftes erkennen. Aber natürlich sehen das die Extremisten ganz anders.

In Ihrem Buch benennen Sie sehr offen, sehr mutig Ihre Kritik an Zuständen in der saudi-arabischen Gesellschaft. Haben Sie keine Furcht, mit der Fatwa belegt zu werden?
Ich spreche nicht direkt das Regime oder die Regierung an, ich erzähle aus meinem Leben und dem Leben der Frauen in Saudi-Arabien. Ich berichte nur Tatsachen.

Es dringen nur spärlich Nachrichten aus Saudi-Arabien zu uns. Aber bekannt ist, dass Frauen Bildung nicht verschlossen ist. Sie selbst haben zwei Jahre Koranwissenschaften studiert.
Frauen können den höchsten Bildungsstand erreichen, Bildung ist für alle offen. Aber was nützt einer Frau der Professorentitel, wenn sie nicht arbeiten darf und unter dem Vormund des Mannes verbleibt, der über ihr Leben bestimmt und ihr alles verbieten kann? Selbst ihre Hobbys kann die Frau nicht selbst wählen. Und sie darf erst recht nicht den Beruf ausüben, den sie möchte. Eigentlich gibt es nur drei Berufe für Frauen in Saudi-Arabien: Lehrerin, Ärztin und Krankenschwester. Inzwischen beginnt man in einigen Bereichen, so bei den Banken oder in Stiftungen, spezielle Frauenabteilungen einzurichten.

Welchen Beruf hätten Sie denn gern ausgeübt?
Ich wäre gern Stewardess geworden.

Weil Sie die Welt kennenlernen wollten?
Prinzipiell liebe ich es zu reisen. Aber man reist natürlich lieber in Begleitung des Liebsten. Ich reise jetzt sehr viel, aber ein Land ist für mich wie das andere. Es macht mir nicht wirklich Spaß. Nicht ohne Raif.

Sie reisen als Botschafterin von Raif, in seiner Sache und der seiner Leidensgefährten um die Welt.
Ja, ich habe keine Zeit, mir Städte anzuschauen, Land und Leute kennenzulernen. Ich habe aber schon sehr viele Flughäfen und Toiletten gesehen.

Und die Kinder sind oft alleine?
Für die Kinder ist das natürlich schwierig. Aber sie sind in Cherokee in einer befreundeten Familie sehr gut aufgehoben.

Können Sie sich vorstellen, irgendwann, wenn Raif wieder in Freiheit ist und Saudi-Arabien sich gewandelt hat, in Ihr Geburtsland zurückzukehren?
Nein. Selbst wenn Raif freikäme und sich in Saudi-Arabien etwas ändern würde - es wird sich nie so viel ändern, dass es dort nicht doch noch genug Extremisten gibt, die die Freiheit hassen und Frauen erniedrigen. Deswegen ist Saudi-Arabien keine Option mehr für uns. Es müsste schon ein Wunder geschehen.

Raif ist schon einmal fast auf offener Straße erstochen worden, beherzte Passanten retteten ihn.
Das war, nachdem die Fatwa 2011 gegen ihn erlassen wurde. Damit fingen unsere Probleme erst so richtig an. Der Salafist, der Raif attackierte, hatte dabei noch nicht einmal eine blasse Ahnung davon, was liberal und Liberalität überhaupt bedeutet. Er hat in der Fatwa das Wort »Ungläubiger« gelesen und das hat ihm gereicht.

Wohin man auch schaut - Kriege und Kriegsherde. Auch Afghanistan und Irak sind nicht befriedet. Schuld am Unfrieden ist maßgeblich der Westen, der zudem in seinem aussichtslosen »Krieg gegen den Terror« ausgerechnet autokratische Regime wie das in Riad zum Bündnispartner erwählt, die dadurch nur gestärkt werden. Werfen Sie das westlichen Politikern vor?
Ich erhebe gegen niemanden Vorwürfe. Aber ich wünsche mir, dass alle Regierungen, weltweit, ihre Völker als ihre Kinder ansehen, die sie beschützen müssen - wie ein liebender Vater und nicht wie ein strafender.

Verbale Proteste sind notwendig und wichtig. Würden aber Sanktionen gegen Riad die Freilassung von Raif nicht stärker befördern? Der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hätte seinen Besuch jüngst in Saudi-Arabien absagen und alle, vor allem Rüstungsgeschäfte einstellen können.
Alle Rüstungsgeschäfte sind absurd. Und es sind ja schon Rüstungsgeschäfte abgesagt worden. Ich glaube, die deutsche Regierung weiß, was sie tut, um Raif zu helfen. Und ich danke ihr für ihren Einsatz.

Was würden Sie den Völkern und Staaten zurufen, wenn Sie die Gelegenheit hätten, vor der UNO-Vollversammlung zu sprechen?
Ich würde sie bitten, von der saudischen Regierung zu fordern, Raif freizulassen, denn er war und ist ein friedfertiger Mensch, hat niemandem etwas Böses getan. Seine Kinder leben in Kanada, und bei ihnen sollte er sein. Warum lässt die saudische Regierung Raif nicht außer Landes, wenn sie ihn nicht im Land seiner Geburt sein Leben mit seiner Familie nach seiner Facon leben lassen will? Warum lässt sie ihn nicht gehen?

Darf man fragen, wie Sie den 9. Januar erlebt, erlitten haben?
Es war ein ganz, ganz schwarzer Tag. Ich hatte das Gefühl, einen Albtraum zu durchleben. Ich fühlte mich furchtbar einsam und verlassen, obwohl mich den ganzen Tag Menschen aufsuchten, mich zu trösten versuchten. Ich hätte nicht gedacht, dass die Justiz die Androhung wahr macht. Das Urteil kann jederzeit komplett vollstreckt werden. Raif wurde auf dem Platz ausgepeitscht, wo sonst die Todesstrafe vollzogen wird, vor der Al-Jafali-Moschee in Jeddah. Es war für mich so schmerzhaft, unerträglich, auf YouTube zu hören und zu sehen, wie die Leute jubelten und »Allahu Akbar« schrien.

Ich fordere von der Regierung, dass sie die Prinzen Mohammed ibn Naif und Mohammed ibn Salman sowie vor allem König Salman um Begnadigung bittet. Und wenn das nicht möglich ist, dann wenigstens, dass Raif aus der Haft entlassen wird. In Saudi-Arabien werden jede Woche Kriminelle begnadigt, warum nicht Menschen, die nicht kriminell sind?

Sehen Sie sich in der Reihe starker Frauen wie etwa Aung San Suu Kyi, Sirimavo Bandaranaike, Angela Davis oder Wangari Maathai?
Ich weiß nicht. Es ist meine Pflicht, Raif beizustehen und auch für die Freilassung all der anderen politischen Gefangenen in Saudi-Arabien zu kämpfen. Und für die Abschaffung der Todesstrafe und Folter, für Presse- und Meinungsfreiheit in Saudi-Arabien. Ich habe eine Stiftung gegründet. Und ich danke allen, die mich weltweit unterstützen. Sie geben Raif und mir Kraft und Mut. Es ist gut zu wissen, dass wir unseren Kampf nicht allein durchstehen müssen. Ein jeder, noch so klein erscheinender Sieg kann ihn retten und mit ihm andere Menschen in gleicher Lage retten, kann die Welt verändern.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.