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Besondere Menschen
Lena Gorelik erzählt von einer seltsamen Liebe - und will womöglich selbst etwas verarbeiten, verstehen
Nils Liebe - schon als Kind hat er seinen Familiennamen gehasst, der zu ihm, diesem in sich eingeigelten Jungen, auch nicht passte. Oder gerade doch? Man wird sich während der Lektüre immer wieder fragen, wie man die Beziehung zwischen Nils und der nicht minder seltsamen Sanela nennen soll. Sie ist aus Bosnien an eine deutsche Schule gekommen, die Mutter qualvoll an einer Krankheit gestorben, der Vater im Krieg gefallen, Verwandte, die sie nicht mögen. Da kann man doch verstehen, dass mit dem Mädchen an gewöhnliche Unterhaltung kaum zu denken war.
Lena Gorelik: Von Null bis unendlich.
Roman.
Rowohlt Berlin. 297 S., geb., 19,95 €.
»Sie war die Erste in seinem Leben, die ihn verstand, und bereits jetzt blitzte in seinem überklugen Kopf, den er auf seine Jacke gebettet hatte, der Gedanke auf, vielleicht würde sie die Einzige bleiben.« Da ist Nils 14 und mit Sanela - welch ein Wahnwitz - spontan, ohne Wissen der Eltern ins Kriegsgebiet nach Jugoslawien gefahren, um ihres Vaters Grab zu suchen. Sie finden es natürlich nicht. Jahre später werden sie eine weitere Reise dorthin unternehmen, die den Abschied von Sanela bringen wird. Und einen Neubeginn.
Liebe und Tod - wie viele ergreifende Geschichten hat es schon zu diesem Thema gegeben. Zwei Menschen, miteinander verwachsen, werden mitten im Glück getrennt. Einer muss dem Sterben des anderen zusehen, von dem er oder sie anfangs noch glaubt, es abwenden zu können, aber die Krankheit ist stärker. La Traviata. Operndramatik. Aber Lena Gorelik - geboren 1981 in St. Petersburg, 1992 mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland gekommen, Journalistin und Autorin von sechs auf Deutsch verfassten Büchern - hat für die Behandlung dieses Themas einen Weg gewählt, den vor ihr womöglich noch niemand ging.
Sie brauchte den literarischen Klischees nicht auszuweichen, weil sie ihnen von vornherein nicht nahe kam. Denn Nils und Sanela passen in kein Raster, wie auch Sanelas kleiner Sohn Niels-Tito nicht. Von seinem Vater, mit dem Sanela eine Zeit lang zusammen war und der dann starb, hat er die blonden Haare. Aber der Charakter kommt von seiner Mutter. Also passt er auch zu Nils Liebe, den Sanela nach Jahren der Trennung wiedergefunden hat, einzig zu dem Zweck, dass er für ihren Sohn sorgen sollte.
»Ich liebe dich nicht«, sagt der Junge später zu ihm. »Ich meine, ich kann dich nicht lieben, wie ich Mama liebte … Ich, ich finde dich aber meistens sympathisch.« Nils Liebe streckt eine Hand aus, um sie schützend auf die Schultern des Jungen zu legen, aber lässt sie in der Bewegung stecken. »Alles klar«, sagt er und erzählt Niels-Tito »noch ein paar Dinge über Zahlen, von denen er hofft, dass sie dem Jungen Freude bereiten oder zumindest ihm selbst. Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre, Banachraum, Permanenzprinzip.« - Und das, als sie zu Ehren der Toten ein Feuer angezündet haben.
Die Psychologie hat inzwischen Begriffe für solche Menschen, die, hochbegabt, im Verhalten von einer Norm abweichen. »Wahrnehmungsstörung« stand auf den Rezepten, die Sanela vom Kinderarzt bekam. »Ihr Sohn hat keinen Zugang zu seinen Gefühlen«, meinte die Lehrerin. Das weiß Lena Gorelik besser. Bei den beiden Erwachsenen ist es ähnlich: Die Gefühle sind stark, die Formulierungskraft enorm, aber dazwischen liegt eine Zone der Sprachlosigkeit, die zu überwinden Anstrengung erfordert. Der Annäherung folgt Abkehr, dem liebevollen Wort Schweigen oder Schreien. Da das Buch mehr aus Nils’ Perspektive erzählt wird, ist es vornehmlich Sanela, deren Verhalten immer wieder befremdet. Wie sie Nils zurückweist, obwohl sie ihn so sehr braucht, wie sie nie auch nur die geringste Rücksicht nimmt, ihn mit Worten schlägt, es ließe sich durch den Hirntumor erklären. Aber er weiß, dass sie im Grunde immer schon so war. »Was er sich über Sanela merken würde: dass sie die Menschen jederzeit und immer dazu brachte, das zu tun, was sie von ihnen wollte.« Das war ihm schon klar geworden, als er das erste Mal mit ihr am Meer war.» More!«, rief sie und rannte ins eiskalte Wasser. »Komm, komm, komm!«
Von »besonderen Menschen« spricht Lena Gorelik mehrfach im Buch. Sie hat wohl auch ein eigenes Bedürfnis, da etwas zu verarbeiten, verstehen zu wollen. Sich abzufinden, wie es auch Nils irgendwann gelingt. Dabei sind die Frau, der Mann, das Kind auf ihre Weise ganz verschieden. Was sie eint - und trennt - ist das Übermaß ihrer Autonomie. Sie können nicht lieben, nicht Abschied nehmen wie andere, für sie gibt es keine Muster. Und wir werden beim Lesen auch immer wieder schockiert, wir staunen, dass Nils trotz allem Sanela nicht irgendwann verlässt. Passt sein Familienname doch zu ihm? »Gerade wenn du so bist, wie ich dich nicht liebe, liebe ich dich dennoch. Das Trotz macht Liebe zu Liebe.«
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