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Ein Unbehagen, so groß wie der Ozean
Über Vergangenheit, die nicht zur Ruhe kommt: Yorck Kronenbergs empfindsamer Roman »Tage der Nacht«
»Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben. / Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben« - mit diesen Versen setzt Rainer Maria Rilkes Gedicht »Vorgefühl« ein, das von einem aufkommenden Sturm kündet. In Yorck Kronenbergs Roman »Tage der Nacht« sieht sich Anton, emeritierter Literaturprofessor, der geballten Macht der Gezeiten ausgesetzt. An der britischen Küste, wo Meer und Winde toben, stemmt er sich gegen eigene Verdrängung, gegen Fluchtgedanken.
Yorck Kronenberg: Tage der Nacht.
dtv. 256 S., geb., 18,90 €.
Die konzentrierte Charakterstudie des 1973 geborenen Autors erzählt von einem Weg der Reinigung und Traumabewältigung. Nachdem der Professor und seine Frau in einem englischen Landhaus des Nachts überfallen wurden, bestimmt eine beinah schon kafkaeske Angst seinen Alltag. Nachts ist er von Albträumen gequält. Splitter des Einbruchs, aber ebenso Versatzstücke aus einer grauenvollen Vergangenheit geraten wie Treibgut an den Strand seines Bewusstseins.
Die Episoden aus der Kindheit dieses Mannes führen uns in die Denunziationsgesellschaft der NS-Zeit, die einen Keil des Misstrauens durch die Familie Antons und der Nachbarschaft trieb. Indem Kronenberg dieses längst nicht aufgearbeitete Gestern mit dem von Unbehagen überschatteten Hier und Heute stringent parallelisiert und dem Leser einen linearen Handlungsverlauf verweigert, erhält der Einbruch eine unheimliche Tiefe. Im Schock kommt, psychoanalytisch plausibel grundiert, Verdrängtes zutage, löst sich ein Ventil mit nachhaltiger Wirkung.
Mehr und mehr begreifen wir: Nicht dieser einmalige Verlust des Privaten, nicht die Ohnmacht im Angesicht des Verbrechens, scheint die eigentliche Ursache für Antons Selbstentfremdung zu sein. Vielmehr äußert sich der Einbruch als eine Metapher für all die Abgründe einer belasteten Jugend im Zeichen der Despotie. Die Sprache, derer sich der Romancier für die Ausmalung dieses gebeutelten Krisenschicksals bedient, berührt durch eine Lakonie, so salzig-kühl und gleichsam zart wie eine Meeresbrise. Ihr wohnt die Einsamkeit inne, wie sie bereits Kronenbergs erstes Prosawerk »Welt unter« (2002) durchzieht.
Auch dort begegneten wir einem Haltlosen, dem mehr oder weniger nur sein eigenes Ich geblieben ist. Er zieht durch eine menschenleere Landschaft, apokalyptisch und absurd zugleich. In Antons Dasein nun hat sich das Nichts weniger gleichnishaft seinen Raum gebahnt. Mit dem Einbruch »war der Abgrund wieder vollständig aufgerissen, die Flut, gegen die er sich sein ganzes Leben unter Aufbietung aller Kräfte gestemmt hatte, über ihn hereingebrochen«. Dass er unterdessen beschließt, sich den erhabenen Gewalten der Natur mutig auszusetzen, versteht sich als eine unausweichliche Katharsis, an deren Ende wie ein ersehnter Befreiungsschlag die wahre »Zeit zu trauern« steht.
Kronenberg, ein studierter Pianist und Komponist, beherrscht dabei die Klaviatur der menschlichen Psyche mit feinem, jedoch stets hörbarem Anschlag. Es ist die Vielstimmigkeit eines inneren Konzerts, das unser Gemüt wieder liebesfähig macht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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