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Der doppelte Raum

Die Novelle »Grimsey« von Ulrich Schacht: eine Feier im Frost

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Untergehen kannst du auf festem Land. Freizügigkeit kann dir alle Wege zu dir selber verschließen. Der Schrei ist heute aus dem Stoff, aus dem morgen das Gelächter sein wird. Die Dinge verbessern heißt immer auch: sie auf neue Weise verfälschen. Kurzum: Nur raus, nur fort! Grimsey zum Beispiel. Eine isländische Insel. Der Erzähler dieser Novelle durchstreift das Eiland als Sammler arktischer Geographien. Er sieht auf seinen Spaziergängen einen Jungen, will ihn einholen. Vergeblich. »Was immer der Junge vor ihm tat, der Junge bewegte sich in einer Zeit, die nicht die seine war.«


Ulrich Schacht: Grimsey.
Eine Novelle.
Aufbau. 190 S., geb., 19,95 €.


Das ist der Kern dieses außergewöhnlich atmosphärisch malenden Buches: Ulrich Schacht trifft in diesem Jungen auf sein eigenes Leben. Aber in keinem der atemberaubend farbig erzählten Inselmomente geschieht das direkt, konfrontativ, schnittartig - des Dichters Sprache findet zu einem nebulös dahintreibenden Schleier aus Überblendungen und Traumflussbildern; der Erzähler tastet sich in Erinnerungen hinein, spricht leise, um sie nicht zu verscheuchen. Grimsey als das, was der Autor bei den geliebten Möwen beobachtet, sie verbinden Ozean und Himmel, ihre Welt ist »ein doppelter Raum ohne Grenzen«. Wie Leben und Gedächtnis.

Geschichte hat Schacht einmal als einen »unfreien Raum« bezeichnet. Aber Freiheit musste her. Inmitten der Menschen, doch jenseits der Leute. Er ist ein Mensch des Nordens geworden, lebt in Schweden. Immer wieder zog es ihn in die norwegische und russische Arktis. Ein Bilder-Maler, dem sich Wahrnehmung zu einem geografisch-mythischen Gewebe fügt. »Grimsey« bestätigt, feiert jene Örtlichkeit, wo Freiheitsempfinden, das sich schwungvoll aufwirft, mit jener tief gefühlten Fesselung an ein höheres Walten verbunden bleibt, das den Menschen zurückwirft, auf sich selbst. So ist das Buch ein Roman der Eisränder; Trost entsteht durch das, was ist, ohne etwas bedeuten zu müssen. Alle Bedeutung ist freilich da, sie schweigt, sie gleißt - auf Wegen, da alles eindunkelt in jene Dämmerung, die zurückruft, was letztlich nicht überwindbar ist: Trostlosigkeit. Im Grunde geht es im Buch um die Themen, die der Erzähler in einem Vortrag auf einem Ökologiekongress angesprochen hatte. Er geißelte dort »Materialismus und Konsumgier, behauptete ein Recht auf spirituelle Notwehr, forderte Mut zur Demut angesichts der Größe der Schöpfung, proklamierte sein elftes Gebot, du sollst Gottes Schöpfung lieben wie dich selbst, und zitierte Dante: ›Aus Schöpfers Liebe herrlich trat das All‹«.

Wir wissen nicht wirklich, was an unserer eigenen Biografie freier Wille und was Fremdbestimmung ist. Schacht kam 1951 im Frauengefängnis Hoheneck zur Welt - die zwischen Zellenwänden das Gegenteil von Welt war. Studiert später Theologie, wird Anfang der siebziger Jahre verurteilt. »Staatsfeindliche Hetze.« Freikauf. Sein Leben erinnert an jene andere DDR, von deren bitterer Seite heute manche meinen, sie sei nur erwähnenswert bei Einordnung ins grundsätzlich Positive. Aber wenn man schon auf den Wert der eigenen Biografie pocht, sollte man der Vollständigkeit halber auch das mittragen wollen, was - neben tatsächlichem Idealismustrieb - oft genug den kleinen Frieden der Zufriedenheit und des Unbehelligtbleibens erst ermöglichte: das Blendwerk Ideologie oder diese Beflissenheit, mitzutun, ohne aufzufallen.

Ein wichtiges Wort zu Novellenende: »durchhalten«. Das Aufgebürdete, aber auch das Heitere. Wegen einer Last leben und trotz einer Last - die wahre Einheit. Es geht ein Sog von dieser Insel aus: auf einer Reise zu sein hin zu einem letzten Ort, wo dem Zusammenprall von fremder und eigener Wahrheit nachzulauschen ist, von Möglichem und Wirklichem, von Bewegung und Festgefrorensein. Bezwingendes Denken über das Unheimliche, über die Zeit als Not und Nötigung, über die Stille und immer wieder über das mächtigste, wunderbarste aller Musikinstrumente: das Meer. Beim Lesen das Gefühl, als sei alles Leben durch deckende Schichten an die Oberfläche gestiegen und ans Licht getreten, um dann wieder in einer ungeheuren Tiefe zu versinken. Grimseys Lehre hebt dir dennoch den Kopf: Ja, man kann die Einsamkeit festhalten, als würde man eine Festgemeinde hereinbitten.

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