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Nach der Katastrophe beginnt die Sinnsuche
Heinz Helle beschreibt eine postapokalyptische Welt - mit düsteren Worten und einem menschenfreundlichen Kern
Wie sähe die beste aller Welten aus? Eine hochtrabende Frage, auf die - wie so oft - die Satire eine passende Antwort weiß. Wenige Wochen ist es her, da veröffentlichte die Zeitschrift »Titanic« eine Fotocollage, auf der eine explodierende Atombombe, zwei verkohlte Wohnblöcke und ein ausgebranntes Kinderkrankenhauszimmer zu sehen sind. Garniert ist das Bild mit dem Schriftzug: »Gute Nachrichten für 2030: Armut tatsächlich weltweit verschwunden!« Die Menschheitsprobleme lassen sich also erst lösen, wenn das Problem namens Menschheit sich aus dem Staub gemacht oder sich zumindest eigenhändig zu selbigem pulverisiert hat.
Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen.
Roman.
Suhrkamp. 180 S., geb., 19,95 €.
In Zeiten, in denen flüchtlingsfeindliche Bürger, antisemitische Esoteriker und bayerische Politiker die apokalyptische Stimmung im dauerhaft reizüberfluteten Kollektivbewusstsein halten, ist es gewiss ein kluger Schachzug, einen Endzeitroman zu schreiben. Mag die Idee auch nicht originell sein, der Zugriff auf das Thema, den Heinz Helle für sein neues Buch gewählt hat, ist außergewöhnlich.
Allein dieser ebenso beiläufige wie melodische und gerade darum sich von seinem düsteren Gegenstand weniger ironisch denn ehrfurchtsvoll distanzierende Titel: »Eigentlich müssten wir tanzen.« Zumal die Protagonisten tatsächlich tanzen inmitten dieses Untergangsszenarios. Sie tun es, weil sie sich ständig ihres Menschseins zu versichern trachten; vor allem aber, weil sie sonst erfrieren würden: »Wir tanzten im dunklen Speisesaal, wir sahen unsere Gesichter nicht, wir hörten uns staunend schnaufen, hecheln, zwischen panischem Aus- und vorsichtigem Einatmen, frische Luft, kalt, viel zu kalt. Und über allem der Unglauben an die Möglichkeit einer solchen Temperatur in einem geschlossenen Raum.«
Welch karger Stil, welch nüchterne Berichtsform, welch rationale Wortwahl zur Beschreibung dieser Not, in der sich die Freunde befinden! Zu fünft haben sie sich vor Monaten auf eine Berghütte zurückgezogen. Nach ihrer Rückkehr ist nichts mehr wie zuvor. Sie begegnen Flugzeugwracks mit blutig »aus der Kabine hängenden Pilotenkörpern«, Leichen »liegen im Gebüsch mit eingeschlagenem Schädel«, überall sehen sie »Klumpen«, die sich als »Knäuel von verbrannten Menschen« herausstellen. Sie sind, so scheint es, die letzten Überlebenden der ultimativen Katastrophe. Was genau sich zugetragen hat, verrät Helle nicht.
Dessen rhythmischer Ton entfaltet seine Präzision denn auch weniger durch detailliertes Ausbreiten eines Plots. Er findet beängstigende Klarheit vielmehr in einer die Frage nach dem Scheitern alles Menschlichen poetisierenden Gratwanderung zwischen Empathie und Überlebensinstinkt.
Während das Quintett von Erschöpfung, Hunger und Verzweiflung geplagt durch ein leeres Österreich stapft, fühlt es sich begleitet von einer umherschwirrenden Bedrohung, die nur von der Gruppe selbst ausgehen kann. Und alle Befürchtungen bewahrheiten sich, als die mittlerweile zu einem Duo geschrumpfte Schicksalsgemeinschaft doch noch auf einen lebendigen Menschen trifft: »Die Fäuste mit den Werkzeugen fallen mitten in sein Gesicht, auf die weißen Wangen, die Stirn, in die plötzlich aufklaffenden Löcher, die sich erst mit den weit geöffneten Augen verbinden und dann miteinander zu einem einzigen dunklen Abgrund, an dessen Ende das eine, endgültige Grau wartet, das uns alle verbindet, so also sieht ein Gehirn aus.«
So brachial die Plünderungs- und Kampfszenen auch gehalten sind, so sanft muten die immer wieder eingestreuten Rückblenden an. Darin schildert Helles Erzähler banale Alltagsszenen, die ungemein zart, empfindsam und bisweilen sogar humorvoll gehalten sind. Ob sich die Hauptfigur nun an die aus der Leibesfülle eines ihrer Freunde resultierende Unbeholfenheit im Umgang mit Frauen erinnert oder ob sie die Angewohnheit eines anderen Kumpels rekapituliert, im Büro Pornos zu konsumieren: Weil diese Reminiszenzen im postapokalyptischen Setting stehen, können sie seltsamerweise nur als Momente größtmöglichen Glücks erscheinen.
Eines Glücks, wie es das Leben der Menschen gemeinhin ausmacht, ohne dass sie sich dessen allzu oft bewusst sind. So zwingt Helle seine Leser mit seinem aufwühlenden Formexperiment zu einer radikalen Selbstbefragung: Worin sehe ich eigentlich den Sinn meines Daseins? Am Ende ist dieses sinistere Buch also trotz seiner vordergründigen Gemeinheit, ebenso wie die eingangs zitierte Satire, zutiefst lebensbejahend.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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