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Grenzenlose Macht - eine höchst akute Gegenwartsfrage
Jörg Baberowski und Robert Kindler diskutieren mit Historikerkollegen Herrschaft und Terror im Stalinismus
Dieses Buch ist Resultat einer Zusammenarbeit, wie man sie sich nicht nur auf geschichtswissenschaftlichem Feld wünscht. Historiker aus der Bundesrepublik Deutschland, aus Frankreich, Russland, Ungarn und den USA, die - eingeladen vom Lehrstuhl »Geschichte Osteuropas« an der Humboldt-Universität und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur - Vorlesungen an der Alma Mater Unter den Linden in Berlin hielten, diskutieren Herrschaft und Terror unter Stalin.
Jörg Baberowski/Robert Kindler (Hg.): Macht ohne Grenzen. Herrschaft und Terror im Stalinismus.
Campus. 223 S., geb., 19,90 €.
Jörg Baberowski hat sich von einigen seiner im Buch »Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus« (2003) vertretenen Thesen distanziert und mit »Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt« (München 2012) ein neues Diskussionsangebot unterbreitet. Im Feuilleton und in Fachzeitschriften wurde dieser »Selbstfindungsprozess« des Lehrstuhlinhabers nicht ohne Ironie zur Kenntnis genommen und kommentiert. Franziska Augstein merkte damals an: »Die Ideologie sei nur ein Vorwand gewesen und Brutalität alles: Jörg Baberowski übertreibt es ein wenig mit seiner psychopathologischen Darstellung der russischen Revolutionäre.« Dessen neues Leitmotiv: »Es sind Menschen die töten, nicht Ideen.«
Stalins Sowjetunion beschreiben die Herausgeber als vormoderne, auf Furcht und Zwang beruhende Gesellschaft. David Shearer kritisiert die verführerische Argumentation, dem System »in der Rückschau eine ideologische oder kulturelle Rationalität zuzuschreiben«. Fabian Thunemann skizziert den Verschwörungsglauben Stalins. Lorenz Erren befasst sich mit den Legitimationsquellen. Als »ihr wichtigstes Element« und »neue Sphäre der Öffentlichkeit« bezeichnet er die notorischen (Partei-)Versammlungen. Die Tatsache, dass seriöse westliche Historiker aufgrund von Archivstudien »vorübergehend« den Terror als Ergebnis einer Radikalisierung deuteten, spreche für die erschreckende Wirksamkeit von Stalins »Öffentlichkeitsarbeit«. Erren geht in diesem Kontext leider nicht auf die Polemik russischer Historiker ein, die sich von Anfang an gegen solche Deutungen wandten.
Worum es in den zurückliegenden Debatten ging, klingt am deutlichsten in den Aufsätzen von Nikita Petrow, der über Schicksale der NKWD-Täter schreibt, und von Gerd Koenen an. Letzterer betont: »Die andere Seite des Schweigens, die erstickende Stille also, die die großen Mordtaten des vergangenen Jahrhunderts eingehüllt und in gewissem Grad (mit-)ermöglicht hat, ist insofern keine Frage einer bloßen historischen Aufarbeitung und eines trauernden Eingedenkens. Es ist eine höchst akute Gegenwartsfrage, eine Frage an uns selbst und an die ›Weltgemeinschaft‹, von der so leichthin gesprochen wird.«
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