Gefangen in einer neuen Spirale der Gewalt

Serie von Messerattacken gegen Israelis reißt nicht ab / Auch Palästinenser Opfer von Überfällen

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 3 Min.
Israel und Palästina kommen nicht zur Ruhe. In Jerusalem gab es am Montag erneut zwei Messerattacken auf Israelis. Attentate und Ausschreitungen forderten in diesem Monat mindestens 23 Todesopfer.

Am Montagmittag ist die Jerusalemer Altstadt nahezu verweist. Am Damaskus-Tor, dem größten Eingang zu dem nur einen Quadratkilometer großen Gebiet, warten ein paar Händler auf Kunden; einige Touristen streben auf die vielen Sehenswürdigkeiten zu. Immer wieder sehen die Passanten dabei über die Schulter, schauen, ob ihnen jemand verdächtig erscheint, zu nahe kommt. Denn immer wieder wurden in den vergangenen Tagen Menschen mit Messern angegriffen - zum Ziel wird jeder, der Israeli sein könnte. Von Seitengassen aus wachen Polizisten über das Treiben. Hunderte Sicherheitskräfte wurden mittlerweile hierher verlegt. Der Staat Israel zeigt Präsenz. Und ist dennoch machtlos. »Wir können nicht jeden einzelnen kontrollieren«, sagt ein Polizist. Zumal auch in dieser neuen Welle der Gewalt alles zur Waffe umfunktioniert wird, vom Messer über den Schraubenzieher bis hin zum Bagger.

Offen rufen große und kleine militante Gruppierungen palästinensische Jugendliche dazu auf, von den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, Gebrauch zu machen. Die Zeit der Bombenanschläge, die während der zweiten Intifada Israel in Atem hielten, ist vor allem für den Islamischen Dschihad vorbei. Man werde beweisen, dass alle Grenzzäune und Iron-Dome-Systeme Israel nicht vor »dem Zorn der Palästinenser« schützen könnten, heißt es in Pamphleten der Organisation.

Lange Zeit stand die verhältnismäßig kleine Gruppierung im Schatten der Hamas. Doch seit die nach dem Gaza-Krieg im Sommer 2014 nur halb im Verborgenen mit Israel spricht und sich die Lebenssituation im Gazastreifen trotzdem nicht bessert, gewinnt der radikale Islamische Dschihad vor allem bei Jugendlichen ständig an Zulauf. Die Botschaft ist einfach: Jeder könne zum »Freiheitskämpfer«, zum »Märtyrer« werden.

Israels Regierung steht dem weitgehend machtlos gegenüber, und das auch aus innenpolitischen Gründen. In der Polizei wurde während einer Serie von Skandalen ein Großteil der Führung gefeuert; der neue Polizeichef wird gerade erst ins Amt eingeführt. Gleichzeitig fordern die Siedlerpartei »Jüdisches Heim« wie der rechte Rand des Likud von Regierungschef Benjamin Netanjahu, man müsse Stärke zeigen, Härte. Das heißt, zusätzliche Kontrollposten im Westjordanland aufbauen, die palästinensischen Gebiete abriegeln, Häuser mutmaßlicher Attentäter zerstören, Soldaten und Polizisten den Todesschuss erlauben.

Vieles davon wurde mittlerweile auch umgesetzt, obwohl vor allem der Inlandsgeheimdienst Schin Beth warnt, dass dadurch die Stimmung nur weiter angeheizt werde. Über 100 Palästinenser, viele davon Jugendliche, wurden in Verwaltungshaft genommen, bei der die Betroffenen für Perioden von jeweils sechs Monaten ohne Gerichtsurteil inhaftiert werden. Mehrere Häuser von Palästinensern, die Attentate verübt haben sollen, wurden zerstört. Ein Verbot für Minister und Abgeordnete, den Tempelberg zu besuchen, wurde in der Vorwoche auf Druck der Rechten nach weniger als 24 Stunden wieder aufgehoben. Rechte Politiker nutzen solche Besuche der Juden wie Muslimen heiligen Stätten, um den israelischen Hoheitsanspruch über Ost-Jerusalem zu unterstreichen.

Dass nicht immer alles so klar ist, wie es scheint, zeigte sich in einer Gerichtsanhörung im nordisraelischen Afula am Montagmorgen. Dort wurde der Fall eines israelischen Arabers verhandelt, der ein Auto in eine Menschenmenge gesteuert haben soll. Doch der vermeintliche Anschlag stellte sich als Notwehr heraus. Der junge Mann war von rechten Israelis angegriffen worden.

Auch das gehört zur Realität in diesen Tagen: Nicht nur palästinensischen Radikale, sondern auch ultrarechte israelische Gruppierungen rufen zur Gewalt auf. Eine schon seit Monaten anhaltende Serie von Übergriffen auf Palästinenser hat sich in diesen Tagen weiter verstärkt. Und anders als israelische Araber können sich Palästinenser im Westjordanland nicht auf Notwehr berufen. Zwar gilt auch in den Gebieten unter israelischer Zivilkontrolle mittlerweile Zivilrecht. Doch bei seiner Einführung vor einigen Monaten wurde der Notwehrparagraf explizit ausgeklammert.

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