Ich habe in die Luft geschossen

Buchmesessesplitter: Protokoll einer Reise nach Frankfurt am Main

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 7 Min.

Freitag, 5.25 Uhr, Berlin. Auf dem U-Bahnhof Blaumänner und Bürokostüme. Müde Smartphone-Lethargie. Ein Nachtarbeiter mit zwei Taschen Leergut. Lauter Schläfer.

7.23 Uhr. Bahn-Lektüre. Peter Handke sagt: »Auch Goethe war kein Meister, er war ein ordentlicher Stümper.«

10.12 Uhr, Messe-Eingang. Ein Security-Guard, rote Weste, dunkle Haut, fragt, ob ich ein Taschenmesser im Gepäck hätte. Ich: »Nein.« - Er: »Sprengstoff?«

10.42 Uhr. Indonesien, das ist zuerst: eine würzige Wolke. Ein Tresen im Gastland-Pavillon fällt von der Nase ins Auge, darauf lauter gläserne Gefäße mit exotischen Gewürzen. Ich bin auf dem »Island of Spices« gestrandet. Unter dem Motto »17 000 Inseln der Imagination« präsentiert Indonesien Land, Leute und Literatur. Im Pavillon hat man sich auf sieben Inseln beschränkt, abgegrenzt durch Kreisformationen von der Decke hängender Leuchtquader. Irgendwo klimpert meditative Musik.

11 Uhr. Das »Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler« soll ausgezeichnet werden. Als Gastrednerin kommt die Ullstein-Verlegerin Siv Bublitz zu Wort, deren Haus zu den Unterstützern gehört. Sie spricht von den Auswirkungen der Digitalisierung auf den lokalen Buchhandel. Nicht die E-Books seien das Problem, sondern der einflussreiche Onlinehandel. Von verschärftem Wettbewerb ist die Rede, und von neuen Möglichkeiten. Bublitz reist seit Monaten durch die Landen, um nachzusehen, was sich bei den Buchhändlern verändert hat. Statt dort weiterzumachen wie bisher, wolle man »bewusst und klug eine Alternative« zu Amazon schaffen. Der Buchladen wird zum Ort der persönlichen Begegnung, Lesungen werden organisiert, Cafés eingerichtet, Hausbesuche angeboten. Und welches ist nun das Lieblingsbuch der Buchhändler? Es sei »Sungs Laden« von Karin Kalisa, sagt einer. Nein, nein, korrigiert eine andere: Die Mehrheit habe für Dörte Hansens »Altes Land« gestimmt. So viel Liebe reicht für mehr als nur ein Buch.

12.28 Uhr. Ich bemerke, dass ich mich in die »Gourmet-Galerie« verirrt habe. Bin ich noch auf der Buchmesse, die als die politischste seit langem angekündigt worden war? Im äußersten Winkel der Halle entdecke ich schließlich das Forum »Weltempfang«, wo über »Grenzverläufe« debattiert wird.

12.43 Uhr. Jenny Erpenbeck spricht über ihren Roman »Gehen, ging, gegangen« und erzählt von der Behördenschikane gegenüber Flüchtlingen, die sie bei ihrer Recherche miterlebt hat. Warum sie zu diesem Thema einen Roman geschrieben habe und keine Reportage? Erpenbeck: »Man kann natürlich selbst die Odyssee als Reportage schreiben.« Aber ein Roman verhandle ganz andere Dinge, zum Beispiel die Frage: Was bleibt von mir? Einige Kritiker hätten ihr vorgeworfen, die Flüchtlinge zu ideal zu schildern. Aber im Buch komme auch der Einbruch bei jenem Professor vor, der sich um die Gestrandeten kümmert. Und mit dem Einbruch keime sofort ein Verdacht ... Etwas ähnliches sei ihr übrigens selbst passiert.

13.05 Uhr. Manuela Schwesig spricht mit Heribert Prantl über Familie und Kinder. Familie, sagt die schwangere Ministerin (SPD), heiße nicht Vater-Mutter-Kind, sondern: Verantwortung übernehmen. Ja, es müsse Steuererleichterungen überall da geben, wo Kinder sind, ob deren Bezugspersonen nun verheiratet sind oder nicht, aber: »Sie wissen, wir sind in einer Koalition, wo das unterschiedlich gesehen wird.« Prantl kommt von der Familien- zur Flüchtlingspolitik und hat für das neue Asyl-Paket nur drei Worte übrig: Apfel, Ei und Rückfahrkarte.

13.33 Uhr, »Weltempfang«. Der ukrainische Schriftsteller und Maidan-Aktivist Serhij Zhadan sagt, dass die Probleme in seinem Land nicht gelöst werden könnten, bevor die Krim-Frage nicht geklärt sei. Wut und Hass seien künstlich geschaffen von »dieser dritten Kraft«. Er meint Russland.

14 Uhr. Männer in Anzügen haben sich in die Menschentraube gemischt, die Arme vorm Körper verschränkt, Knopf im Ohr. Auch ein paar Polizisten sind zu sehen. Hamed Abdel-Samad stellt sein Buch »Mohammed. Eine Abrechnung« vor. Darin zeichnet er den Propheten als geltungssüchtiges Waisenkind, dem die männliche Bezugsperson gefehlt habe. Mohammeds Weg führt hier vom Verkünder des Friedens zum machtversessenen Mörder und Vergewaltiger. Auf die Frage, ob er den Beifall rechter Islamgegner nicht fürchte, dreht der Autor den Spieß einfach um: »Wenn Allah, der Allmächtige, den Koran nicht vor Missbrauch schützen kann, dann kann ich Sterblicher das auch nicht.«

14.52 Uhr. Draußen ein hässlicher Kasten, den ich von hinten für einen Müllcontainer halte. Von vorne betrachtet, zeigt sich: Die Bundesregierung unternimmt hier in einer Mini-Mulitimedia-Show »Eine Zeitreise durch hundert Jahre deutsche Geschichte«.

15.04 Uhr. Neil MacGregor, der Schotte, der zum Gründungsintendanten des Berliner Humboldt-Forums berufen wurde, stellt sein dickes Buch »Deutschland. Erinnerungen einer Nation« vor, die papierne Version einer Deutschland-Ausstellung im von ihm geführten Londoner British Museum. Das britische Publikum, sagt der Deutschlandversteher, brauche ein neues Bild dieses Landes. In den Schulen und Unis würde die deutsche Geschichte noch immer auf zwölf Jahre verkürzt. MacGregors Großeltern hatten vor dem Krieg deutsche Freunde. Seine Eltern wollten, dass die Kinder sich als Europäer fühlen, weshalb sie Französisch und Deutsch lernen mussten. Mit 16 habe er dann eine Zeitlang in Hamburg gelebt; Beginn einer Liebesaffäre.

16 Uhr. Die Veranstaltung »Warum schöne Bücher?« fällt aus. Aber die Antwort auf die Frage liegt in Gestalt prämierter Titel auf den Tischen.

16.38 Uhr, Smalltalk in den Messegängen. Beim Verbrecher-Verlag seien gestern Abend 20 Flaschen Wein und Sekt geleert worden: Herzlichen Glückwunsch zum 20.!

Sonnabend, 9.52 Uhr. Noch einmal in den Indonesien-Pavillon; man spricht über Comics, die dort schon während der niederländischen Kolonialzeit populär waren - als Übermittlungsmedien alter Mythen. Ein junger Comic-Zeichner, Is Yuniarto, berichtet von seiner frühen Begeisterung für diese Hefte aus den 60ern, nur seien sie schwer zu bekommen gewesen. Also entwickelte er seine eigene Serie »Gandanaya« und dafür einen zeitgemäßen Stil. Junge Leute, die nur noch wenig Interesse an der Mythologie zeigten, habe er mit seiner Leidenschaft anstecken wollen. Offenbar ist das gelungen: Es gibt ein Computerspiel zur Serie, Animationsfilme, Poster, Mechandise-Kram und eine japanische Adaption der Hefte.

11 Uhr. Timothy Snyder und sein Buch »Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann«. »The holocaust is bigger than Germany«, sagt Snyder. Man dürfe ihn nicht ethnisch, sondern müsse ihn politisch erklären. Jeder mache den Holocaust seiner Weltsicht zunutze; für die Rechte in seinem Heimatland USA sei die wichtigste Lehre daraus: weniger Staat! Um einen neuen Holocaust zu verhindern, müssten sich aber die Weltsichten ändern.

12.42 Uhr. Ein Mädchen mit Hasenohren aus Plüsch hält ein Schild hoch, auf dem es »Free Hugs«, Gratis-Umarmungen, anbietet. Und tatsächlich: Ein Typ im Anzug fällt ihm in die Arme. Drei Umdrehungen um die Doppelachse. Großes Gejohle.

12.58 Uhr. Feridun Zaimoglu spricht über seinen Roman »Siebentürmeviertel«, der in den 40er Jahren in Istanbul spielt. Im Mittelpunkt stehen ein sechsjähriger Deutscher, Wolf, und dessen Vater, ein kaisertreuer Sozialdemokrat, die vor den Nazis in die Türkei geflohen sind. Später verrät der Autor, dass er per Hand schreibe und die Manuskripte mit einer Schreibmaschine abtippe. Wer zu lange digital kommuniziere, werde Opfer einer »Sprachverhunzung«.

13.28 Uhr. Eine Stimme eröffnet ein »Bierbuffet«. Die Leute stieben zusammen wie eine Horde Blesshühner, denen man eine Handvoll Brot ins Wasser wirft.

14.09 Uhr. Mario Adorf, der unter dem Titel »Schauen Sie mal böse« Geschichten aus seinem Schauspielerleben aufgeschrieben hat, erzählt, dass ihn noch immer Leute auf der Straße ansprechen, weil sie ihm nicht verzeihen, dass er 1963 Winnetous Schwester erschossen hat. Dabei sei Ntscho-tschi-Darstellerin Marie Versini, als er jenen Schuss abgab, gar nicht am Set gewesen. »Ich habe in die Luft geschossen!«

15.30 Uhr. Tanya Stewner - Kinder lieben ihre »Liliane Susewind«-Reihe - gibt preis, dass sie eine schlechte Schülerin war. »Meine Grundschullehrerin dachte, ich würde niemals lesen und schreiben lernen.« Dann ist sie Schriftstellerin geworden.

16 Uhr. Clemens J. Setz soll über seinen Roman »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« sprechen, empfiehlt aber ständig die Lektüre anderer Autoren: Alice Munro zum Beispiel, »ein richtiges Genie«, die könne vielleicht auf 30 Seiten abhandeln, wofür er nun mal 1000 brauchte. Ivy Compton-Burnett, das sei überhaupt die größte Autorin des 20. Jahrhunderts - »Lesen Sie die!« Und Frank Witzel, der - »sehr verdient!« - den Deutschen Buchpreis gewonnen hat (für den auch Setz auf der Longlist stand): »Lesen Sie das Buch, ein unglaubliches Buch!«

16.34 Uhr. Noch einmal die Gänge abschreiten. Der irrigen Annahme entgegengehen, irgendetwas nicht verpassen zu dürfen. Aber die Müdigkeit drückt. Und der Rotwein wartet.

20.46 Uhr, Hotel. Ein Block voller Notizen. Wer soll das alles kürzen? Fotos: nd/Martin Hatzius

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