Nahles’ Fehlrechnung
Selbst wenn alle hundertmal mehr verdienten, würde das nicht zu weniger Armut führen, meint Ronald Blaschke
Schon in den vergangenen Jahren wollten Politiker der Union und FDP europäische Standards zur Bestimmung von Armut unterlaufen. Nun stimmt die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andreas Nahles (SPD), in den Chor ein: Die sogenannte Armutsrisikogrenze wäre kein geeigneter Ansatz, um Armut zu bestimmen. Denn sie zeige lediglich soziale Ungleichheit an, nicht aber Armut. Die beispielhafte Begründung dafür lautet: Wenn alle hundertmal mehr Einkommen im Monat hätten, würde die Grenze nach oben rutschen. Obwohl der Wohlstand ausgebrochen sei, gäbe es weiterhin Armut.
Unkenntnis schützt jedoch nicht vor Kritik. Klar ist nämlich: Wenn die Einkommen steigen, steigen auch die Preise, weil auch (fast) alle Produktionskosten steigen. Das heißt, selbst mit hundertmal mehr Euro in der Tasche würde man nicht mehr kaufen können. Verändert hätte sich also gar nichts, weder an der Armut noch an der sozialen Ungleichheit.
Dieses Beispiel zeigt, dass Mindesteinkommenssysteme regelmäßig an die Preisentwicklung angepasst werden müssen. Wenn Armut und soziale Ungleichheit aber tatsächlich bekämpft werden sollen, muss kräftig umverteilt werden. Die Armutsrisikogrenze wird nach europäischem Standard bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianmittels der Nettoeinkommen gezogen. Median heißt: Die Hälfte liegt mit ihrem Einkommen über ihm, die Hälfte darunter. Wenn nun die unteren Einkommensschichten auf ein Niveau von über 60 Prozent des Medians gehoben und die Einkommen der obersten Einkommensschichten durch Einkommensteuern in Richtung Median gesenkt würden, ginge die Armutsquote gegen null.
Heute beträgt die Quote in Deutschland 16 Prozent. 13 Millionen in Deutschland leben in Armut, das ist jeder Sechste. Das Europäische Parlament fordert zurecht in seinen Entschließungen, dass Mindesteinkommen - ob nun als Sockel in den Sozialversicherungen oder als eigenständige Mindestsicherung, Mindestrente bzw. als Grundeinkommen - mindestens die Höhe der Armutsrisikogrenze haben müssen!
Die bisher bekannten Armutsrisikogrenzen für Alleinstehende in Deutschland liegen je nach Datenquelle bei 1063 Euro, 1029 Euro bzw. 979 Euro. Hochgerechnet mit den jährlichen Steigerungsbeträgen wäre die durchschnittliche Armutsrisikogrenze derzeit bei mindestens 1050 Euro netto. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Arbeitslosengeld beträgt 862 Euro, die durchschnittliche Höhe der gesamten Hartz-IV-Leistung Alleinstehender rund 700 Euro. Der derzeitige BAföG-Höchstsatz liegt bei 478 Euro (ohne die ausbildungsspezifischen Sonderbedarfe in Höhe von 119 Euro). Mit einem Korb voll alltäglicher Waren kommt man auf die Höhe der Armutsgrenze: Eine Untersuchung ergab, dass die notwendigsten Ausgaben für Güter, Dienstleistungen und für eine niedrige Miete für Alleinstehende in Deutschland mindestens 1034 Euro netto im Monat betragen. Wenn die Miete über 300 Euro liegt, was oft der Fall sein wird, entsprechend mehr.
Warum stellen Nahles und konservative Politiker nun die Armutsgrenzen in Abrede? Weil sie ansonsten zugeben müssten, dass viele Erwerbseinkommen, die jetzigen Grundsicherungen, das BAföG, auch für viele Erwerbslose das Arbeitslosengeld und für viele Kranke das Krankengeld nicht vor Armut schützen. Auch nicht vor materieller Unterversorgung: 42 Prozent derer, die ein Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze haben, können sich zum Beispiel nicht jeden zweiten Tag Fisch, Fleisch bzw. eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit leisten. Auch eine Woche Urlaub im Jahr ist kaum möglich. Wenn die Waschmaschine oder etwas anderes kaputt geht, fehlt das nötige Geld für Reparatur oder eine Neuanschaffung.
Würden Nahles und Co. Einkommensarmut nicht ignorieren, müssten sie eingestehen, dass Mindesteinkommen in Deutschland derzeit 1050 Euro netto im Monat absichern müssen. Mit dem Versuch, Armutsgrenzen in Abrede zu stellen, soll aber davon abgelenkt werden, dass mit jetzigen Erwerbseinkommen und Sozialtransfers Armut nicht beseitigt, sondern die Verletzung von Grundrechten aufrechterhalten wird.
Grundrechte müssen erkämpft werden. Sie fallen nicht wie Wachteln oder Manna vom Himmel. Bündnisse müssen geschmiedet, Aktionen und Kampagnen gestartet werden, die deutlich sagen: Armut muss und kann abgeschafft werden, Frau Nahles! 1050 Euro, darunter droht Armut.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.