Déjà-vu als Lebensgefühl

Über andauernde Eindrücke, etwas Bedeutungsvolles schon einmal erlebt zu haben

  • Lesedauer: 4 Min.

Gillian Flynn beschreibt in ihrem Roman »Gone Girl« Nick Dunne, einen Journalisten, dem das Internet seinen Job raubte und den die Ehe mit einer fast perfekten Frau den letzten Nerv kostet. Zum depressiven Räsonieren des geplagten Mannes gehört es, dass er sich an nichts Staunenswertes erinnern kann, was er nicht schon vorher aus den Medien kannte, von der Mona Lisa zu den Pyramiden von Gizeh, vom Kalben der Gletscher zum Vulkanausbruch. Es sei sogar immer so gewesen, dass die Konserve, die vor dem realen Eindruck da war, besser passte und eindrucksvoller war. Ist die Realität heute eine schlechte Kopie der Fiktion?

Selbst wenn wir diese Übertreibung der miesen Laune des Protagonisten in Flynns Thriller zuschreiben - das Problem ist nicht zu leugnen. In der Konsumgesellschaft wird das Abbild, die Kopie, die Konserve zum Massenartikel. So verschärft sich ein Problem radikal, das einst als der Gegensatz zwischen Kunst und Leben diskutiert wurde.

In frühen Künstler-Anekdoten zeigt sich das Genie des antiken Malers darin, dass die von Apelles gemalten Früchte so lebensecht sind, dass Vögel nach ihnen picken. Pygmalions Statue der Venus ist so schön, so lebensnah, dass sich der Künstler in sein Werk verliebt und eine gnädige Göttin ihn tröstet, indem sie dem Bild Leben einhaucht.

Déjà-vu-Erlebnisse beschreiben eine Fantasie, an einem bedeutungsvollen Ort schon einmal gewesen zu sein, ein bedeutungsvolles Erlebnis schon einmal erlebt zu haben. Aber während das Kunstwerk immer nur eine einzige Situation aufgreift und idealisiert, führt die immense Trivialisierung des Bedeutungsvollen, des Dramatischen, des Sensationellen in den Medien dazu, dass die Betrachter eines wirklich dramatischen Ereignisses in den Modus des Zuschauers schalten und entsprechend reagieren.

Wenn ein Mann auf einer Brüstung steht und offensichtlich daran denkt, sich in den Tod zu stürzen, bleiben die Zuschauer passiv; einer schreit: »Spring doch!«, damit das Schauspiel endlich seinen Höhepunkt findet. Wenn die Geiselnehmer aus der Bank auftauchen und die Geisel in das Fluchtauto schleppen, klatschen die Zuschauer hinter den Absperrgittern Beifall - endlich Aktion! Als die von Terroristen gekaperten Flugzeuge in die Twin Towers krachten, dachten die Augenzeugen an einen gelungenen Stunt.

An vielen Orten der Welt gehen heftige Gefahren von einer Gruppe junger Männer aus, die willige Werkzeuge von Warlords sind. Ihre Wut lässt sich mit der Klage des Helden in Gillian Flynns Buch verbinden: Es kann doch nicht wahr sein, dass das eigene Leben in allen wesentlichen Punkten weit schlechter ist als die Erwartungen, die von den vorfabrizierten Bildern geschaffen wurden.

Die Bilder sind so schnell, die Veränderung der Welt auf dem Bildschirm ist so einfach, so perfekt, dass jede handwerkliche Aneignung, jeder Aufbauprozess, jede andere professionelle Entwicklung als die des Kriegers in einem explosiven Kampf gegen dämonisierte Feinde langsam und langweilig wirkt.

Nur durch Geduld, Unterstützung und gute Bildungsangebote gewinnen junge Menschen die Chance auf einen Platz in der Gesellschaft, der ihren Erwartungen entspricht. Stärker an Beziehungen orientiert, weniger von Kastrationsängsten behelligt, sind junge Frauen inzwischen besser für diese Aufgabe gerüstet als junge Männer. Deren Gruppe spaltet sich in Gewinner und Verlierer. Die Verlierer gieren nach schnellen Erfolgen, je weniger Chancen sie für langsame haben. Schnelle Erfolge sind aber nur durch Begabung und Glück - oder durch Bruch der Normen zu haben.

Diesen Bruch nennen die Autoritäten kriminell, entwerten und bestrafen ihn. Aber es gibt einen Ausweg: Orte zu suchen, wo der Regelbruch höhere Weihe gewinnt, im Dienst einer guten oder doch wenigstens großen Sache - Gott, die Freiheit, der Fortschritt, die Einheit der Nation.

Die heiligen Kriege und »Befreiungskämpfe« der Gegenwart wecken ein Déjà-vu: den Dreißigjährigen Krieg in Mitteleuropa, als Warlords heilige Kriege auf dem Rücken einer geplagten Bevölkerung führten. Damals entdecken die Menschen den Wert des Friedens und der Zivilgesellschaft nach vielen Jahren des Niedergangs, der Rechtlosigkeit, der Plünderungen. Heute geschieht zu wenig, um die jungen Männer daran zu hindern, diese Einsicht wieder zu vergessen.

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