Türkische Polizei schaltet Kritik ab
Kontrolle über zwei TV-Sender vor laufender Kamera übernommen / EU-Kommission äußerte sich »besorgt«, hält aber kritischen Türkei-Bericht zurück
Update 19.20 Uhr: Oppostion verurteilt einhellig Angriff auf die Verfassung
Die Empörung über den Polizeieinsatz führte zu einem ungewöhnlich einmütigen Protestauftritt der ansonsten weitestgehend zerstrittenen türkischen Opposition. Abgeordnete der Mitte-Links-Partei CHP, der rechtsnationalen MHP und der pro-kurdischen, linken HDP waren nach Angaben von Bugün TV bei dem von der Polizei gestürmten Sender vor Ort. HDP-Chef Selahattin Demirtas sagte in Istanbul, die Polizeiaktion verstoße gegen »die Verfassung und gegen nationales und internationales Recht«.
Update 19.00 Uhr: EU-Außenbeauftragte besorgt um Meinungsfreiheit
Die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini sagte in Brüssel: »Die Türkei muss wie jedes andere Land, das über einen EU-Beitritt verhandelt, sicherstellen, dass die Menschenrechte eingehalten werden - das schließt auch das Recht auf freie Meinungsäußerung ein.« Die Entwicklungen seien besorgniserregend und würden von der EU genau beobachtet.
Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verurteilte das Vorgehen der Behörden als ungewöhnliche Maßnahme, um kritische Medien zum Schweigen zu bringen.
Update 15.30 Uhr: Staatsanwaltschaft meldet IS als Auftraggeber für Ankara-Anschlag
Die türkische Staatsanwaltschaft gab bekannt, dass nach ihren Erkenntnissen der Anschlag auf die Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober von der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien in Auftrag gegeben worden sei. Eine Gruppe in der türkischen Provinz Gaziantep im Südosten des Landes habe den Anschlag geplant, nachdem sie »direkte Anweisungen« von der IS-Organisation in Syrien erhalten habe, teilte die Staatsanwaltschaft in Ankara am Mittwoch mit. Zuvor hatte die Regierung bereits mitgeteilt, dass die IS-Miliz als der Hauptverdächtige für die Bluttat angesehen werde. Noch vor wenigen Tagen hatte aber der islamisch-konservative Präsident Recep Tayyip Erdogan von einem »kollektiven terroristischen Akt« gesprochen und den Anschlag den Dschihadisten, den kurdischen Rebellen der PKK, den kurdischen Milizen in Syrien und dem syrischen Geheimdienst gemeinsam zugewiesen. In der Türkei wird am Sonntag das Parlament neu gewählt.
Bei dem Anschlag am 10. Oktober auf eine Friedensdemonstration waren 102 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt worden. Es handelte sich um den schwersten Anschlag in der jüngeren Geschichte der Türkei.
Update 14.10 Uhr: Brüssel »besorgt« über Vorgehen gegen Medienkonzern in Türkei
Vor den Parlamentswahlen in der Türkei hat sich die EU-Kommission »besorgt« über das Vorgehen der türkischen Behörden gegen den regierungskritischen Medienkonzern gezeigt. Die Ereignisse seien »beunruhigend«, sagte eine Kommissionssprecherin am Mittwoch in Brüssel. Die Türkei als Beitrittskandidat der EU müsse Menschenrechte respektieren, wozu auch die Meinungsfreiheit gehöre. Die Kommission werde dies »bald« gegenüber der türkischen Regierung ansprechen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekräftigte unterdessen seine Äußerungen, dass eine Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingskrise unumgänglich sei.
Die EU-Kommission sieht sich schon seit Wochen Kritik ausgesetzt, weil die Veröffentlichung eines jährlich erstellten Fortschrittsberichts über die Entwicklung des Beitrittskandidaten Türkei bisher nicht erfolgt ist. Ein Kommissionssprecher sagte dazu, die Veröffentlichung sei nicht »verschoben« worden. Juncker entscheide »über den angemessenen Zeitpunkt« dafür. Juncker hatte am Dienstag im Europaparlament gesagt, er kenne und teile auch viele Aussagen, »dass es Zweifel gibt, Bedenken gibt, dass es vieles zu hinterfragen gibt«. Es bringe »aber im Moment nichts«, der Türkei zu sagen, es gebe »ungelöste Fragen in puncto Menschenrechte, in puncto Pressefreiheit und so weiter und so fort«. Diese »Missstände« würde in den Gesprächen mit der türkischen Seite angesprochen. Doch »ob es passt oder nicht passt, ob es gefällt oder nicht gefällt, wir müssen mit der Türkei in gemeinsamer Anstrengung zusammenarbeiten«.
Update 14 Uhr: Sicherheitskräfte agierten ohne Durchsuchungsbefehl
Beim eindringen in die Zentrale des türkischen Senders Bugün TV hätte sich die Polizei nicht ausgewiesen und keinen Durchsuchungsbefehl vorgezeigt, erklärte der Chefredakteur am Mittwoch auf seinem Sender. Die Sicherheitskräfte seien in die Sendezentrale eingedrungen und wollten den Sender abschalten, was ihnen jedoch nicht gelang. »Was in diesem Gebäude seit dem Morgen passiert ist, das ist alles rechtswidrig«, sagte er.
Update 13.15 Uhr: Reporter ohne Grenzen fordert Ende der Repressionen
Reporter ohne Grenzen fordert zusammen mit türkischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen ein sofortiges Ende aller staatlichen Einschränkungen einer freien Berichterstattung in der Türkei. Im Anschluss an einen Dringlichkeitsbesuch in Istanbul und Ankara haben acht Organisationen eine Reihe gemeinsamer Forderungen an die türkische Regierung gerichtet, darunter ein Ende des Missbrauchs von Antiterror- und Verleumdungsgesetzen zur Unterdrückung unliebsamer Veröffentlichungen sowie ein Ende der Praxis, Steuerbehörden und andere staatliche Stellen gegen kritische Journalisten zu instrumentalisieren.
»Wenige Tage vor der Parlamentswahl einen kritischen Medienkonzern unter staatliche Aufsicht zu stellen und gewaltsam zu stürmen, ist eine absolut inakzeptable Grenzüberschreitung«, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. »Erdogan darf unabhängige Journalisten nicht länger als Staatsfeinde betrachten und persönlich verfolgen.« In einem aktuellen Bericht
verweist Reporter ohne Grenzen (ROG) zudem auf den Zusammenhang zwischen verschärfter Zensur und dem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen türkischem Staat und der PKK.
Türkische Polizei stürmt Medienkonzern mit Kettensägen
Istanbul. Wenige Tage vor der Parlamentswahl in der Türkei hat die Polizei vor laufenden Kameras die Zentrale eines regierungskritischen Medienkonzerns in Istanbul gestürmt und die Kontrolle über zwei Fernsehsender übernommen. Die Sicherheitskräfte verschafften sich am Mittwoch mit Kettensägen Zugang zum Sitz der Unternehmensgruppe Koza-Ipek, wie auf im Internet verbreiteten Live-Bildern zu sehen war. Die Polizisten gingen zudem mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Angestellte vor, die sich ihnen entgegenstellten.
Schließlich besetzten die Einsatzkräfte die Regieräume der beiden Sender Kanaltürk und Bugün. Diese stehen nun unter Kontrolle eines von der Justiz eingesetzten Zwangsverwalters.
Der Koza-Ipek-Konzern, der auch im Bergbau und im Energiesektor aktiv ist, steht der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahe. Die Justiz hatte die Unternehmensgruppe am Montag unter Zwangsverwaltung gestellt. Die Staatsanwaltschaft begründete die Maßnahme mit Ermittlungen wegen des Verdachts der »Terrorfinanzierung« und »Propaganda«.
Gülen, ein ehemaliger Unterstützer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, hatte sich vor zwei Jahren mit der Regierung überworfen. Seitdem wirft Erdogan dem in den USA lebenden Gülen einen Umsturzversuch vor. Gülen weist die Anschuldigungen zurück.
Die türkische Regierung steht seit langem wegen ihres Vorgehens gegen Journalisten in der Kritik. Ihr wird vorgeworfen, kurz vor der Wahl am Sonntag den Druck auf die Medien zu erhöhen.
EU-Kommission hält Türkei-Bericht zurück
Unterdessen wird im Bundestag Unmut über die Zurückhaltung des Türkei-Berichts der EU-Kommission geäußert. Das berichtet die »Süddeutsche Zeitung« (Mittwochsausgabe). Demnach werden laut einem Entwurf in dem Fortschrittsbericht erhebliche Defizite der Türkei »im Bereich Rechtsstaatlichkeit« beklagt. Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) sagte der »Süddeutschen Zeitung«, er fordere die EU-Kommission auf, den Fortschrittsbericht »unverzüglich zu veröffentlichen und kein taktisches Versteckspiel im Hinblick auf die Wahlen in der Türkei am 1. November zu betreiben«.
In dem Berichtsentwurf heißt es laut »SZ«, durch den unzulässigen Eingriff der Exekutive in die Justiz sei deren Unabhängigkeit beeinträchtigt. Richter und Staatsanwälte seien wegen ihrer Entscheidungen festgenommen worden. Anlass zur Sorge gäben auch die Restriktionen bei der Versammlungs- und der Religionsfreiheit. AFP/nd
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