Unsere gemütliche Stube
Gibt es noch Wahrheiten? Bestimmt. Aber sie werden immer weniger. Selbst weltpolitische Kleinigkeiten wie die Fußball-Weltmeisterschaft, auf das dieses »neue und weltoffene« Deutschland bis heute so stolz ist, war also wahrscheinlich nur das Resultat von Schmiergeldern. Damals hieß es, dass »die Welt zu Gast bei Freunden« sei. Sommermärchenhaft. Doch alles war offenbar bloß ein Produkt aus Bestechungsgeldern. Illusorisch bricht diese stolze Geschichte jetzt in sich zusammen. Was derzeit thematisch passt, denn bei Freunden ist die Welt wahrlich nicht zu Gast bei uns. Eher in Zeltstädten. Wie gesagt, selbst solche Randnotizen haben einen bitteren Beigeschmack, bauen auf Lüge. Man kann sich darüber wundern. Oder man kann sich sagen: War eh irgendwie klar. Die »konjugierte Wahrheit« ist der stetige Begleiter in diesem Deutschland unter Kanzlerin Merkel. Unter ihrer Ägide hat sich nicht nur den politischen Diskurs sediert (immerhin wissen die Sozialdemokraten noch nicht sicher, ob sie bei der nächsten Bundestagswahl überhaupt einen Gegenkandidaten ins Rennen schicken sollen), sie hat auch das Wohlbefinden des Biedermeier zur Doktrin in diesem Lande erhoben.
Oh, was war das Biedermeier für eine gemütliche Zeit. Die Bürger zogen sich aus der Politik zurück, überließen den großen Tieren den politischen Diskurs und waren froh, nicht anecken zu müssen. Denn was man ausschließen wollte war Repression. Der Rollback arbeitete und die Bürger, deren Revolution quasi gescheitert war, setzten sich inmitten von Zierkissen in ihre hübsche Wohnzimmer, sahen den Frauen beim Häkeln zu und schlürften Muckefuk. Das war sicherer. Wenn dann Vati mal sagte: »Der Metternich geht mir auf den Sack mit seiner verfluchten Reaktion«, dann antwortete Mutti: »Karl, wir wollen das Politische nicht ins Haus lassen. Das schickt sich nicht.« Man log sich also eine nette Gemütlichkeit zusammen, während die Granden draußen Leute einsperrten und anderes Schindluder trieben. Man machte auf Wohlbefinden und Seelen-Wellness. Den Begriff gab es damals nur noch nicht, aber betrieben hatte man es trotzdem. Alles sollte irgendwie doch gut sein in einer Welt, die irgendwie ja nicht so herausragend toll war.
Doch sich zwischen Zierkissen zu hocken und so zu tun, als sei alles zum Besten bestellt, war nur die Sache der Kleinbürger. Die Adligen und Politiker hingegen lullten die Leute nicht mit Reden über die ausgesprochen guten Umstände ein. Sie betrieben ihr Geschäft ungeniert. Nun gut, sie hatten ja auch keine PR-Berater, die ihnen auftrugen, das eine zu sagen und das andere zu meinen oder zu tun. Sie berieten sich als edle Herren selbst. So weit wäre es noch gekommen, dass so ein Werbefritze ins Geschäft feiner Herrschaften gefunkt hätte. Heute ist das anders. Heute hat die Politik die Zierkissen mit in die Öffentlichkeit genommen und lässt fortwährend weitere dieser hübschen kleinen Vierecke produzieren. Wohlbefinden ist nichts mehr für die Kaffeetafel alleine. Es ist ein Gesellschaftsauftrag geworden. Und wenn man Wohlbefinden nicht durch explizite Maßnahmen realistischer machen kann, so kann man doch immer noch davon reden, wie gut es uns allen geht und wie alles zum Besten bestellt ist. Wie neulich mal wieder, als man uns den ifo-Geschäftsklimaindex unter die Nase rieb und sagte: »Alles toll. Weiter so!«
Und so leben wir in einer Welt voller Lug und Trug, in einem Szenario, in dem man aufhübscht, Polituren aufträgt, scheuert und wischt, den Hochglanz mit biologisch abbaubaren Mittelchen umsetzt. Manchmal auch mit der chemischen Keule. Kommt drauf an, wie stark der Schmutz ist, dem man zu Leibe rücken will. Man schrubbt beständig an den Missständen und macht sie so zu Zuständen – zu ausgesprochen guten Zuständen. Die oberste Reinmachefrau sitzt derweil im Kanzleramt und sortiert jeden Tag ihr Putzmittelsortiment. Sie will ja auch, dass wir es schön haben in unserem zeitgenössischen Biedermeier. »Setzen Sie sich, liebe Bürgerinnen und Bürger, trinken Sie noch einen Kaffee, essen Sie ein Stück Kuchen, kuscheln Sie sich in die Kissen und seien Sie unbesorgt: Wir schaffen das. Und auch alles andere. Kein Grund zum Politisieren für Sie. Überlassen Sie das mir … äh: uns, also der Regierung.«
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