Handschrift gegen Tastatur
Reicht es, wenn Kinder künftig nur noch eine Druckschrift mit wenigen Verbindungen zwischen den einzelnen Buchstaben lernen? Psychologen warnen vor den Folgen für die kindliche Entwicklung. Hinter dem Vorschlag steckt aber auch ein großes Geschäft
Anfang des Jahres sorgte eine Nachricht aus Finnland für Aufregung. Ausgerechnet der skandinavische Klassenprimus, jahrelang Spitzenreiter der PISA-Bildungstests, schafft die Schreibschrift ab! Das aufwändige Lernen von verschnörkelten Buchstaben, erklärten die Schulplaner aus Helsinki, koste zu viel Mühe und sei motorisch kompliziert. Ab 2016 üben die finnischen Kinder deshalb vorrangig eine einfache Druckschrift. Die dadurch frei werdende Zeit sollen sie statt dessen am Computer verbringen. Das »flüssige Tippen auf der Tastatur«, so die zuständige Bildungsministerin Minna Harmanen, sei künftig eine viel bedeutsamere Kulturtechnik.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es in Deutschland. Beim Schreibenlernen herrscht hierzulande wie auf vielen Feldern der Bildungspolitik jedoch das föderalistische Chaos. In Thüringen zum Beispiel steht die Druckschrift nach finnischem Muster schon seit 2010 auf dem Lehrplan. Im Stadtstaat Hamburg unterrichten Lehrer nach der Grundschrift, einer Mischung aus Druckbuchstaben und Elementen der Schreibschrift. Die Pädagogen anderer Bundesländer vermitteln noch die traditionelle lateinische Ausgangsschrift oder die aus der ehemaligen DDR stammende »Schulausgangsschrift«.
Viele Fachleute sind bezüglich einer Reform nach finnischem bzw. thüringischem Vorbild skeptisch. Es geht ihnen dabei nicht darum, in rückwärts gewandter Romantik den Verlust der eigenen Handschrift zu beklagen. Aber sie betonen, das Schreiben mit der Hand sei eine Höchstleistung des menschlichen Gehirns. Den mühsamen Lernprozess, der viel Geduld erfordert, halten sie für einen bedeutsamen Schritt in der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung.
Gestützt werden solche Argumente durch die internationale Forschung. So fand eine Untersuchung der US-Amerikanerin Karin James 2012 heraus, dass beim Schreiben per Hand mehr Hirnaktivitäten messbar sind als beim Eintippen von Zeichen auf einer Tastatur. James schloss aus ihren Ergebnissen, dass handschriftliche Übungen das Gehirn besonders anregen. Gerade die »Unordnung« der mit dem Stift verfassten Buchstaben vergrößere den Lerneffekt. Weitere Studien in Kanada und den Vereinigten Staaten haben gezeigt, dass Schüler sich mit einer Verbundschrift Texte besser merken und ihren Sinn besser erfassen können.
Auch Ursula Bredel, Professorin für Deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim, legt Wert auf das Üben mit verbundenen Buchstaben. Dies habe positive Wirkungen auf die Sprach- und Rechtsschreibekompetenz von Grundschülern. Die Handschrift sei ein sogenannter komotorischer Prozess: Nicht einzelne Buchstaben »werden isoliert verschriftet, sondern Buchstabenfolgen, die sprachlichen Einheiten entsprechen«.
Die niedersächsische Germanistin kritisiert die deutsche Schulpolitik für ihren Aktionismus. Vor der Einführung einer neuen Grundschrift wäre »ein wissenschaftlich gut begleitetes Pilotprojekt wünschenswert gewesen, mit Kontroll- und Experimentalgruppen, bei denen man testet, wie sich die Schreibkompetenz über einen längeren Zeitraum entwickelt«. Und Wilfried Bos, Professor für Schulentwicklungsforschung in Dortmund und Leiter der Internationalen Grundschuluntersuchung IGLU, »regt es ziemlich auf, dass wir didaktische Entscheidungen, die möglicherweise von großer Bedeutung für das spätere Leben vieler Kinder sind, ohne ausreichende empirische Grundlage treffen«.
Der Streit um das handschriftliche Lernen wirkt wie ein Kulturkampf, es geht aber auch um viel Geld. Denn der Abschaffung der Schreibschrift folgt der massive Einsatz der Computer: Was Schüler bisher billig mit Stift und Papier tun, sollen sie künftig mit einem Hunderte Euro teuren Hilfsmittel erledigen. In Deutschland ist die digitale Versorgung der pädagogischen Institutionen - im Vergleich etwa zu Finnland - noch nicht allzu weit fortgeschritten. Für über acht Millionen Schulkinder eigene Rechner anzuschaffen, diese regelmäßig zu warten und die Lehrer entsprechend weiterzubilden - das ist ein Riesengeschäft. »Mit der Einführung von Endgeräten ist es nicht getan«, betont Marianne Janik, Geschäftsleiterin bei Microsoft. Sie wünscht sich ganz im Sinne ihres Unternehmens einen »digitalen Bildungspakt quer durch die ganze Gesellschaft«.
Die interessierten Firmen trommeln seit Jahren aus wirtschaftlichen Gründen für eine »digitale Agenda«, die die Bundesregierung dringend verabschieden müsse. »Jeder Schüler sollte ein Tablet oder ein Notebook zur Verfügung haben«, fordert Dieter Kempf, Präsident des Branchenverbands Bitkom. Die Kosten liegen nach Schätzungen von Experten bei rund 800 Euro pro Schüler für Rechner, Anschlüsse und Fortbildung. Das ganze Projekt würde sich so auf mindestens sieben Milliarden Euro bundesweit summieren. Da scheint es kein Zufall, wenn Lobbyisten ständig über die »mittelalterliche« technische Ausstattung der Bildungseinrichtungen klagen oder eine in Deutschland angeblich besonders ausgeprägte »Computerfeindlichkeit« anprangern.
»Wahrscheinlich prallen das 19. und das 21. Jahrhundert nirgends schroffer aufeinander als in den Schulen, dort konkurrieren Handschrift und Smartphone direkt«, meint der Fachjournalist Christian Füller. Der Streit um die fundamentale Fähigkeit des Schreibens werde hier »unmittelbar geführt, etwa mit strikten Handyverboten«. Das »Netz in der Hosentasche« treffe auf die »letzte analoge Insel der Gesellschaft«. In einer Studie des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung sagen 63 Prozent der befragten Pädagogen, dass die »fortschreitende Digitalisierung der Kommunikation« ein wichtiger Grund für den Verfall der Schreibfähigkeiten ihrer Schüler sei. Die Kinderbuchautorin Ute Andresen, frühere Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, sieht das gründliche Lernen dieser Kulturtechnik deshalb weiterhin als »elementaren Vorgang, den man nicht aufgeben sollte«.
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