Den Toten des Mittelmeers Namen geben
Italien will gesunkenes Flüchtlingsboot heben, das im April mit über 700 Menschen an Bord sank
Rom. Vittorio Piscitelli hat einen grausigen Job - und gibt gleichzeitig zahlreichen trauernden Menschen in Konfliktgebieten die Hoffnung zurück, ihre geliebten Angehörigen doch noch in Würde beerdigen zu können. Der Präfekt ist im Auftrag des italienischen Innenministeriums dafür zuständig, Licht ins Dunkel der verheerenden Flüchtlingskatastrophe vom April 2015 zu bringen. Das Wrack des Bootes soll geborgen werden, Hunderte Leichen - die noch im Inneren sind - müssen identifiziert werden.
»Die Aktion sollte innerhalb von 120 Tagen abgeschlossen sein, wenn das Wetter es zulässt«, erklärt der 62-Jährige in seinem kleinen Büro in der Nähe des römischen Hauptbahnhofs im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Ein privates Unternehmen sei mit den Arbeiten 157 Kilometer nordöstlich der Küste Libyens beauftragt worden.
Ein Rückblick: Mitte April gerät ein völlig überladenes Flüchtlingsboot zwischen Libyen und der italienischen Insel Lampedusa in Seenot. Die Passagiere schaffen es noch, einen Hilferuf abzusetzen - aber als ein portugiesisches Handelsschiff am Unglücksort eintrifft, kentert das Boot. Nur noch 28 Menschen können lebend aus den Fluten geborgen werden.
Die Geretteten berichten, dass über 700 Menschen an Bord gewesen seien - aber zunächst werden nur 24 Leichen gefunden. Augenzeugen erzählen, viele Flüchtlinge seien im Laderaum eingeschlossen gewesen und hätten deshalb keine Chance gehabt, zu überleben. Die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Carlotta Sami, spricht damals bereits von »einer der größten Tragödien im Mittelmeer«. Die Flüchtlinge stammen nach UNHCR-Angaben unter anderem aus Bangladesch und aus zahlreichen afrikanischen Krisenstaaten wie Eritrea, Somalia, Mali, Sierra Leone und Senegal.
Italiens Marine hatte in den vergangenen sechs Monaten 118 weitere Leichen von der Unglücksstelle in etwa 370 Metern Tiefe geborgen und vor einigen Wochen erklärt, damit seien die Bergungsarbeiten beendet. Nun entschied sich die Regierung aber doch, das Wrack zu heben - so wie es Regierungschef Matteo Renzi bereits kurz nach der Tragödie versprochen hatte. »Ich möchte, dass die ganze Welt sieht, was hier passiert ist«, hatte Renzi betont. Die Mentalität »Aus den Augen, aus dem Sinn« sei inakzeptabel.
»Es ist eine sehr, sehr teure Operation«, sagt Piscitelli. Zahlen nannte er jedoch nicht. Wichtig sei es ihm besonders, dass die Würde der Toten geachtet werde. Die Behörden vermuten, dass sie im Inneren des Schiffes noch mindestens 400 Flüchtlinge finden werden. Sie sollen von einem Team Gerichtsmediziner der Universität Mailand auf spezielle Merkmale untersucht werden, wie etwa ihre Ohren, das Gebiss oder auch Tätowierungen, Piercings, besondere Kleidung oder Schmuck.
Das Material soll dann mit Beschreibungen als vermisst gemeldeter Migranten verglichen werden. Findet sich eine Übereinstimmung, werden die Angehörigen benachrichtigt. Die Zusammentreffen seien jedes Mal »emotional äußerst schwierig« zu verkraften, so Piscitelli.
Jedoch ist eine Identifizierung erfahrungsgemäß nach so langer Zeit nur schwer möglich. Zum Vergleich: Die Mailänder Spezialisten hatten nach zwei Unglücken vor Lampedusa, die sich im Oktober 2013 ereignet hatten, 387 Leichen untersucht. Nur 30 von ihnen konnten identifiziert werden.
Derweil gibt es erste Pläne, in Italien einen Friedhof eigens für Flüchtlinge anzulegen. »Es gibt britische (Soldaten-) Friedhöfe, es gibt amerikanische (Soldaten-) Friedhöfe, warum sollte es nicht einen Friedhof für Migranten geben?«, sagt Piscitelli. Die Menschenrechtsorganisation »Movimento Diritti Civili« unterstützt die Idee. Ginge es nach ihr, dann könnte der Friedhof auf einem 10 000 Quadratmeter großen Stück Land in der südlichen Region Kalabrien angelegt werden. Der Chef der Gruppe, Franco Cordelli, schätzt, dass das Projekt etwa vier Millionen Euro kosten würde, die von der Region zusammen mit der Regierung und der EU aufgebracht werden sollen. dpa
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