Die Zarenknochen sind echt
Russen fürchten allerdings wegen der hohen Kosten die Umbettung der Romanows
Seit Ende September ist es vorbei mit Andacht und Stille in der Zarengruft der Peter- und Pauls-Kathedrale in St. Petersburg. Gerichtsmediziner und Beamte der Ermittlungsbehörde öffneten die Särge von Nikolaus II. - Russlands letztem Zaren -, Gattin Alexandra sowie von Nikolaus’ Großvater, Alexander II. Vielen Russen wird dabei mulmig. Wegen der anfallenden Kosten und vor allem wegen Störung der Totenruhe. Die Russisch-Orthodoxe Kirche, sonst selbsternannte oberste moralische Instanz der Nation, sieht das weniger eng. Die Exhumierungen der Majestäten geschehen nicht nur mit ausdrücklicher Billigung hoher Kleriker, sondern in deren Beisein.
Vor allem die Kirche zweifelt, wessen Überreste 1991 in einem Waldstück bei Jekaterinburg im Ural gefunden und 1998 mit einem pompösen Staatsbegräbnis umgebettet wurden: Die Gebeine der 1918 von den Bolschewiki erschossenen letzten Romanows oder die gewöhnlicher Sterblicher? Es waren die Zarenknochen, so erste Ergebnisse der neuen Genanalyse, die Mittwoch bekannt wurden.
Zwar waren westliche Forscher schon in den 90er Jahren mit der Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent zum gleichen Schluss gekommen. Doch nicht nur Nationalisten wähnten damals eine Verschwörung des Abendlandes: Mütterchen Heimat sollte - wieder mal - ein falscher Zar untergejubelt werden. Für die neue Genanalyse wurde daher ein russisches Labor mit russischer Technik verpflichtet. Dessen Forscher sind inzwischen vor allem nach Untersuchung eines Blutstropfens auf dem Totenhemd von Alexander II. - Folge eines Anschlags - ihrer Sache zwar hundertprozentig sicher, die Erben der Romanows und der Klerus indes nach wie vor skeptisch.
Die neuen Ergebnisse seien vorläufige, so Alexander Sakatow, Kanzleivorstand der Blaublütler. Restlose Klarheit werde erst die Exhumierung von Nikolaus’ Vater, Alexander III. bringen. Allein sie und die anschließende Wiederversiegelung des Sarkophags werden den Steuerzahler 18 Millionen Rubel (268 000 Euro) kosten. Iwan Artsischewski, Chef der in Russland lebenden Romanows, hofft indes, Präsident Wladimir Putin oder Patriarch Kirill würden den «Unfug» mit ihrem Machtwort verhindern.
Beobachter sind sich nicht so sicher. Echtheit von 110 Prozent sei Voraussetzung für ein Staatsbegräbnis, hieß es. Es geht um die Umbettung der sterblichen Überreste von Thronfolger Alexej und dessen Schwester Maria. Ihre Leichen wurden 2007, rund 800 Meter von denen der Eltern und Geschwister entfernt, entdeckt. Obwohl die genetischen Untersuchungen bereits 2008 abgeschlossen waren, lagern die Kästchen mit den Knochenfunden seither unbestattet im Staatsarchiv. Die Beisetzung in der St. Petersburger Zarengruft ist für Februar 2016 geplant. Mit Teilnahme höchster Kreise von Staat und Kirche.
Historische Kontinuität hat für Putin absolute Priorität. In lupenreiner Version ist sie nur mit dem Segen der Staatskirche zu haben. Zu Putins Amtsvorgänger Boris Jelzin war das Verhältnis besonders gestört. Dieser hatte als KP-Chef von Jekaterinburg das Todeshaus der Zarenfamilie schleifen lassen.
Die Beisetzung der Zarenkinder, glaubt ein hoher Regierungsbeamter, werde nicht nur den Streit um die «Knochenfunde von Jekaterinburg» - so die offizielle Sprachregelung der Kirche und der Romanows - beenden. Sie sei eine wichtige «staatliche und kirchliche Veranstaltung. Beider Beziehungen seien seit 1998 »sehr viel reifer« geworden. In der Tat. Trotz KGB-Vergangenheit hatte der Klerus zu Putin von Anfang an ein sehr viel besseres Verhältnis als zu Jelzin. Er gilt als Sammler der russischen Lande und steht - siehe Umgang mit sexuellen Minderheiten - auf den gleichen konservativen und antiwestlichen Positionen wie die Kirche.
Flexibler und wendiger als Patriarch Alexi, der 2008 das Zeitliche segnete, plane Patriarch Kirill seit langem einen ehrenvollen Rückzug beim Streit um die Zarenknochen, glaubt Kolumnist Anton Orech. Das sei jedoch extrem schwierig. Alexi habe die Majestäten vor fünfzehn Jahren heiliggesprochen, ihre Gebeine hätten damit den Quantensprung zu Reliquien vollzogen.
Als 2011 ein Teil vom Gürtel der Heiligen Jungfrau in Moskau gezeigt wurde, standen Zigtausende in beißender Kälte Tage und Nächte Schlange. Echt oder nicht war eine Frage, die niemand stellte. Im frühen Christentum hätten die Kirchenväter es leichter gehabt, so der »Moskowski Komsomolez«. Genanalysen, die die Echtheit des Gürtels bestätigen, waren unbekannt. Kirill dagegen müsse hundertprozentige Sicherheit für die Authentizität von Reliquien liefern. Mithilfe der von der Kirche gern verteufelten modernen Naturwissenschaften. Die Genehmigung dazu habe er sich vom Kremlchef geholt.
Endgültige Klarheit zu den Knochenfunden und ein genauer Termin für Beisetzung der Zarenkinder werden im Januar erwartet.
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