Appell von Experten gegen »Datendiktatur«

Big Data, Nudging, künstliche Intelligenz: Ein »Digital-Manifest« fordert die Sicherung von Freiheit und Demokratie

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. »Die digitale Revolution ist in vollem Gange. Wie wird sie unsere Welt verändern?«, mit diesen Worten beginnt ein Appell, in dem internationale Experten aus Big-Data-Analyse, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Philosophie vor der Aushöhlung von Bürgerrechten und Demokratie durch eine unkontrollierte Anwendung neuer Technologie warnen. Ihr Antwort auf die Frage: Man erlebe »derzeit den größten historischen Umbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs«, heißt es in dem »Digital-Manifest«, das in der Zeitschrift »Spektrum« veröffentlicht wurde. »Die Art, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft organisieren, wird sich fundamental ändern.«

»Auf die Automatisierung der Produktion und die Erfindung selbstfahrender Fahrzeuge folgt nun die Automatisierung der Gesellschaft. Damit steht die Menschheit an einem Scheideweg, bei dem sich große Chancen abzeichnen, aber auch beträchtliche Risiken. Treffen wir jetzt die falschen Entscheidungen, könnte das unsere größten gesellschaftlichen Errungenschaften bedrohen.« Verfasst worden ist der Appell unter anderem von Dirk Helbing von der ETH Zürich, der Big-Data-Unternehmerin Yvonne Hofstetter und dem Technologie-Ethiker Jeroen van den Hoven.

Was das Manifest fordert: zehn Grundprinzipien
  1. die Funktion von Informationssystemen stärker zu dezentralisieren;
  2. informationelle Selbstbestimmung und Partizipation zu unterstützen;
  3. Transparenz für eine erhöhte Vertrauenswürdigkeit zu verbessern;
  4. Informationsverzerrungen und -verschmutzung zu reduzieren;
  5. von den Nutzern gesteuerte Informationsfilter zu ermöglichen;
  6. gesellschaftliche und ökonomische Vielfalt zu fördern;
  7. die Fähigkeit technischer Systeme zur Zusammenarbeit zu verbessern;
  8. digitale Assistenten und Koordinationswerkzeuge zu erstellen;
  9. kollektive Intelligenz zu unterstützen; und
  10. die Mündigkeit der Bürger in der digitalen Welt zu fördern – eine "digitale Aufklärung".

Die Prognosen der Experten künden von einem gravierenden Wandel: »Algorithmen werden in den kommenden zehn bis 20 Jahren wohl die Hälfte der heutigen Jobs verdrängen. 40 Prozent der Top-500-Firmen werden in einem Jahrzehnt verschwunden sein«, heißt es in dem Manifest. Zudem sei es »absehbar, dass Supercomputer menschliche Fähigkeiten bald in fast allen Bereichen übertreffen werden – irgendwann zwischen 2020 und 2060«.

Vor allem wird in dem Papier vor den Auswirkungen von »Big Nudging« gewarnt - manipulative Technologien, die auf Basis von oft ohne Einverständnis der Nutzer gesammelter persönlicher Daten die Entscheidung von Menschen beeinflussen. »Mit ausgeklügelten Manipulationstechnologien werden sie uns in Zukunft zu ganzen Handlungsabläufen bringen können, sei es zur schrittweisen Abwicklung komplexer Arbeitsprozesse oder zur kostenlosen Generierung von Inhalten von Internetplattformen, mit denen Konzerne Milliarden verdienen. Die Entwicklung verläuft also von der Programmierung von Computern zur Programmierung von Menschen«, so die Autoren, zu denen überdies der Psychologe Gerd Gigerenzer, der Molekularbioolge Ernst Hafen sowie der Mediziner und Wissenschaftshistoriker Michael Hagner gehören.

Der von dem Manifest prognostizierte, von neuer Technologie getriebene Wandel könne auch die Politik gravierend verändern – auf dem Wege einer »gezielten Entmündigung des Bürgers durch staatlich geplante Verhaltenssteuerung«: Der »neue, umsorgende Staat interessiert sich nicht nur dafür, was wir tun, sondern möchte auch sicherstellen, dass wir das Richtige tun«, wird in dem Manifest weiter formuliert. »Big Nudging« erscheine manchem dabei »wie ein digitales Zepter, mit dem man effizient durchregieren kann, ohne die Bürger in demokratische Verfahren einbeziehen zu müssen«.

In ihrem Appell warnen die Experten, zu denen auch der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Bruno S. Frey, der niederländische Politikwissenschaftler Andrej Zwitter und der Mailänder Informatiker Roberto V. Zicari gehören, vor einer »Art Feudalismus 2.0«. Dies sei aber nicht unabwendbar. Es gebe »jetzt die Chance, mit den richtigen Weichenstellungen den Weg zu einer Demokratie 2.0 einzuschlagen, von der wir alle profitieren werden«, so die Autoren. Dazu müssten bei der Entwicklung und politischen Steuerung neuer Technologien »Grundprinzipien« eingehalten werden – von der stärkeren Dezentralisierung der Funktion von Informationssystemenüber die Förderung der informationellen Selbstbestimmung bis zur Einführung neuer Informationsfilter und einer neuen »digitalen Aufklärung« der Bürger. nd

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