Das Andere Europas
Ein Gefühl verschafft sich Luft: die Flüchtlinge als Opfer unserer Verdrängungen und Projektionen
Identität ist Heimat in der Sprache. Demjenigen, dem sie gehört, ist sie ein absteckbares Land. Traurig nur, dass sie sich selbst nicht wehren kann. Gegen all die Versuche, sie gewaltsam abzuschirmen und eine Mauer um sie zu errichten. Wenn wir die allwöchentlichen Pegida-Märsche und ihre Ableger in anderen Städten verfolgen, erleben wir stets aufs Neue die fast schon kriegerische Verteidigung einer vermeintlich statischen Sprachidentität. Eine krude Mixtur aus Neofaschisten, Besorgnisträgern, Verirrten und Verlierern am unteren Rand der Gesellschaft sieht im Zustrom über die Balkanroute den Kern dessen bedroht, was die deutsche Seele und die deutsche Nation noch kennzeichnet. Es ist die Rede von Parasiten, Vergewaltigern, Kriminellen und immer wieder von Sozialschmarotzern. Die inzwischen unverstellt offene Fremdenfeindlichkeit scheint dabei verstärkt an eine sozialpolitische Panikmache gekoppelt. Selbst der letzte Multikulti-Träumer soll nun aus der Perspektive der völkischen Mitte der Gemeinschaft einsehen: Die Flüchtlinge, die es bequemerweise ohnehin nur im Plural und in Massen gibt, nehmen uns nicht nur Frauen und Sicherheit, sondern auch den Wohlstand und die Jobs weg.
Eindrucksvoll hat der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal in seiner Studie »Europa erfindet die Zigeuner: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung« (2011) nachgewiesen, wie sich exemplarisch das Stereotyp über Sinti und Roma, die in literaturgeschichtlichen Meisterwerken von Hugo bis Goethe mal als Kesselflicker, mal als Wilde und dann wieder als Räuber, Häretiker und Teufelsbündner herhalten mussten, über Jahrhunderte hinweg verfestigen und dem kollektiven Gedächtnis einschreiben konnte. Erneut zeigt sich in der virulenten Flüchtlingskrise, dass der Fremde wenig über sich, aber dafür umso mehr über uns verrät. Er dient Demagogen als Projektionsfläche für Ängste und Unsicherheiten. Bisher moderten sie im allgemeinen Unbewussten und kommen nun zum Vorschein.
Dass die Asylsuchenden von einigen Rädelsführern gern wieder hinter Grenzzäunen und Stacheldrähten gesehen werden würden, ist die eine Schmähung und Unmenschlichkeit. Die andere ist die aktiv betriebene Entmündigung. Statt den von Krieg und Vertreibung Gebeutelten Gehör zu verschaffen und Raum zu geben, sich mit der eigenen Stimme zu Wort zu melden, wird ihnen von Agitatoren ein Bild oktroyiert. Sie sind per se mit einem Stigma behaftet, das nur das Stumme kennt.
Mehr denn je erfahren wir, welche große Macht in der Sprache liegt. Manch einer bedient sich ihrer zur Abwägung, andere nutzen sie frank und frei als Waffe. Desto mehr sind Wissenschaft, Diskursanalytiker und Künstler gefragt, den humanitären Ansatz auch intellektuell zu retten. Nicolas Stemann hat mit seiner grandios-bissigen Uraufführung von Elfriede Jelineks polyphonem Flüchtlingsdrama »Die Schutzbefohlenen« den Unterdrückten auf der Bühne ein Rederecht zuerkannt - wirksam, aber begleitet von scharfen Kontroversen. Zukünftig könnte der politisch Verfolgte zur zentralen Figur der Kunst im 21. Jahrhundert avancieren. Nicht nur Neues dürfte über sein Schicksal verfasst werden. Auch Kanonwerke wie Arthur Millers gerade wieder in Mannheim aufgeführtes Drama »Blick von der Brücke« werden sicherlich wiederentdeckt. Die Kultur in diesem Kontext stark zu machen, ist nicht mit einer feigen Flucht in einen Ästhetizismus zu verwechseln. Nein, in ihr kann eine Rückeroberung von Sprache vonstatten gehen: Ein Ausloten von Multiperspektivität und Empathie für den anderen. Ziel sind kreative Vorstellungen von Heimat, die nicht ausschließt, sondern integriert, ohne das eigene dabei aufzugeben.
Das Aushalten von Spannungen erzeugt wichtige Energien, die derzeit allerdings nicht positiv genutzt werden. Führt man die Ängste der fiebrigen Massen auf den Straßen eng, so tut sich in den sprachlichen und symbolischen Abschottungsgebärden vor allem eine verdrängte Frage kund, deren Beantwortung die Politik der letzten Dekade schuldig geblieben ist: Wieviel Globalisierung kann eine Gesellschaft aushalten?
Obgleich heute niemand mehr über »Heuschrecken«, Kapitalwanderungen und Firmenverlagerungen spricht, sind solche Phänomene für das untere Drittel der Bevölkerung alltägliche Realität. Ihre Arbeitskraft, Würde und Teilhabe wurden wegmodernisiert, ohne dass sie zur Gegenwehr hätten antreten können. Denn die ökonomische Globalisierung wirkt im Abstrakten, während ihre Auswirkungen jedoch lokaler Natur sind. Verantwortlichkeiten sind in diesem kalkulierten Wechselspiel hingegen schwer fassbar. Die ungegenständliche Bedrohung erhält mit den vermeintlichen Eindringlingen indes ein Gesicht.
Der Westen erlebt das Zusammenwachsen einer Welt aktuell in Form massiver Migrationsströme. Deren Instrumentalisierung offenbart nunmehr eine tiefe und ungestillte Wunde. Ein schwelender Druck harrt seiner Entladung. Indem Prekariat und politisch Enttäuschte die Fremden dämonisieren und deren Ausgrenzung mit pervertierten Solidargesängen wie »Wir sind das Volk!« fordern, suchen sie nach einem Ventil für die Wut über soziale Ungerechtigkeit und ein System, das seine eigenen Schwachen längst aufgegeben hat. Der verhinderte oder unterdrückte Diskurs über die sozioökonomischen Folgen der Entfesselung der Märkte wird nun nachträglich auf die Flüchtlingskrise übertragen.
Die »Volksfront« hat somit augenscheinlich ihre Schuldigen gefunden. Die Flüchtlinge sind das Andere Europas und damit ein Teil unserer selbst. Wir haben ihn abgestoßen, bis er nun als Schock des Realen zurückkehrt. Die Straßenrevolten erweisen sich als Stellvertreterkonflikt um die wirtschaftlichen und politischen Makrokrisen unserer Tage. Die nötige Werbung für Toleranz und Humanität, Merkels freundliches Gesicht, ja, und nicht einmal mehr die ehrenamtlichen Helfer werden genügen, um den kaum noch schließbaren Riss durch Deutschland zu kitten.
Eine ernsthafte Lösung des Problems erfordert jenseits kurzfristiger Maßnahmen vor allem eine Änderung des politischen Kurses. Die Aufnahmebereitschaft der Menschen zu fördern, heißt zugleich soziale Integration der Abgehängten zu betreiben. Nur wenn all die Randgruppen wieder das Gefühl erhalten, Teil eines funktionierenden Ganzen zu sein, scheint seitens dieser wachsenden Gruppierung überhaupt erst ein Mentalitätswechsel denkbar. Ein starker Staat ist also gefragt. Er muss seine Verantwortung und Steuerung wahrnehmen. Und zwar für alle.
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