Kontinent der Kontraste

Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert in »Dark Mirror« lateinamerikanische Kunst seit 1968

  • Manuela Lintl
  • Lesedauer: 4 Min.

Ralf Beil, der nach dem plötzlichen und unerwarteten Tod von Markus Brüderlin seit vergangenem Jahr das Kunstmuseum Wolfsburg leitet, bezeichnete Lateinamerika als »Kontinent der Kontraste«. Dass nun erstmals in großem Umfang die Strömungen zeitgenössischer Kunst der oft übergangenen oder geringgeschätzten Südhälfte des amerikanischen Doppelkontinents museal gewürdigt werden, ist der spezialisierten Sammelleidenschaft von Ruth Schmidheiny zu verdanken.

Seit 2000 baut die Schweizer Unternehmerin (einer wegen eines Asbestprozesses nicht unumstrittenen Familiendynastie) durch kontinuierliche Ankäufe die »Daros Latinamerica Collection« auf - und aus. Die Sammlung hat einen öffentlichen Showroom in Rio de Janeiro und pflegt mäzenatisch persönliche und langfristige Kontakte zu »ihren« mittlerweile 120 Künstlern. Natürlich steht hinter der forcierten Ausstellungskooperation der Privatsammlung mit internationalen Museen auch das Kalkül der Wertsteigerung der eigenen Kollektion. In Deutschland machte 2007 das Kunstmuseum Bochum mit der Schau »puntos de vista - Zeitgenössische Kunst aus der Daros-Latinamerica Collection« den Anfang, um durch gezielte Präsentationen der Werke »eine im Vergleich zur europäischen und nordamerikanischen Kunst gleichberechtigte Rezeption« zu erreichen.

Ralf Beil löst mit seinem kuratorischen Blick auf Lateinamerika auch eine eigene Vorgabe ein, nämlich das Wolfsburger Gegenwartsmuseum - nach der Ausrichtung Brüderlins auf philosophisch-kunstwissenschaftliche Fragestellungen - nun mit gesellschaftsbezogenen Positionen zu bespielen. Das Programm, so Beil, werde »politischer, weiblicher und sozialer« und er verfolge eine »globale Sammlungsoffensive«.

Doch dann befällt ihn wohl doch ein wenig die Angst vor der eigenen Courage. Beils Katalogbeitrag ist gut recherchiert und aktuellste Meldungen zur Lage in verschiedenen Ländern und Krisenregionen Mittel- und Südamerikas wie Mexiko, Kolumbien oder Puerto Rico werden berücksichtigt - allerdings überwiegend in den Fußnoten. Es ist, als wolle man die Kunst von der Politik, die doch ihr eigentlicher Anlass ist, lieber wieder trennen.

Die Künstler selbst, die im hinteren Katalogteil, in dem die ausgestellten Werke dokumentiert sind, vielfach zu Wort kommen, sprechen politische Bezüge vergleichsweise unverblümt an: »Das Projekt La manzana de Adà [Der Adamsapfel] mit den Transvestiten aus der Prostituiertenszene fand während der Militärdiktatur statt, in einer von Repression, Zensur und Angst geprägten Zeit. Die gesamte Arbeit lief im Untergrund ab.« So beschreibt die chilenische Fotografin Paz Errázuriz die Entstehung ihrer puristischen Schwarz-Weiß-Fotoserie, die man als sensible Dokumentarfotografie bezeichnen kann. Die Aufnahmen entstanden in den letzten Jahren der Militärdiktatur. Man muss also Beils Zitat von Ingeborg Bachmann: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« noch etwas hinzufügen: Es bedarf allerdings auch einigen Mutes, sie zu zeigen.

Auch Holger Broeker, Sammlungsleiter des Kunstmuseums, hält sich in seinem Katalogbeitrag bei den Deutungen einzelner Werke, die es in sich haben, dezent zurück. Deutung wird hier zur Andeutung und manchmal auch Vermeidung konkreter Aussagen. Das ist legitim, denn die Kunst lässt diesen Spielraum wohlweißlich in ihrer Offenheit und visuellen Verklausulierung zu; schließlich ging es für manche Künstler zu Zeiten, als sie ihre Werke schufen, um nichts weniger als den eigenen Kopf und Kragen. Denn Lateinamerika, das ist auch eine lange Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei, Genozid, (Män᠆ner-) Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Zensur, Korruption, Wirtschaftskriminalität, Ressourcenausbeutung, Drogenkriegen und Militärdiktaturen.

Warum die Ausstellung dann doch eine unbedingt sehenswerte geworden ist, das liegt an der Kunst selbst. 175 Arbeiten von 13 Künstlerinnen und 29 Künstlern, darunter ein gemeinsam arbeitendes Künstlerpaar, wurden aus einem Konvolut von rund 1300 Werken aus einem Zürcher Sammlungsdepot ausgewählt. Die Anordnung als Themenparcours - und nicht etwa geografisch nach den zehn Herkunftsländern sortiert - ermöglicht einen assoziativen, alle Sinne ansprechenden Gang durch Zeit und Raum. Der Fokus wechselt dabei auf länderübergreifende Themensetzungen wie: »Kulturimperialismus und Erinnerungskultur«, »Ironische Subversion« oder »Machismo, Marianismo und die Suche nach Identität«.

Der Ausstellungstitel »Dark Mirror« lässt an einen Gruselschocker denken, tatsächlich spiegeln viele der Arbeiten (erlebte) Grausamkeit, die allerdings subtil, symbolisch, konzeptuell und manchmal auch ironisch oder zynisch verpackt ist. Nur selten wird sie unverschleiert gezeigt. Zum Beispiel in Miguel Ángel Rojas fotografischer Porträtserie des durch eine Landmine kriegsverstümmelten kolumbianischen Soldaten José Antonio Ramos in der klassisch schönen Pose von Michelangelos »David«. Erst auf dem zweiten Blick bemerkt man das fehlende Beinglied. Oder in dem Video »… vom Geschäftlichen und vom Vergnügen« (2000) des Mexikaners Iván Edazas. Der nur einminütige Film zeigt Sequenzen originaler Filmaufnahmen aus den 1970er Jahren, in denen wohlhabende Freizeitjäger aus einem Flugzeug heraus Indios abknallen. Die erlegten Körper werden anschließend zusammengetragen, und die sportlichen Mörder schneiden ihnen Ohren als Trophäen ab. Die Aufnahmen sind authentisch, Edaza entdeckte den bestialischen Film auf dem Schwarzmarkt im ärmeren Tepito-Viertel von Mexiko Stadt. Präsentiert wird das leicht verfremdete Filmmaterial auf einem kleinen Monitor, der mit einem schwarzen Tuch verhängt ist. Symbolträchtiger kann man den Schleier des Vergessens nicht lüften lassen.

Bis 31.1. 2016, »Dark Mirror. Lateinamerikanische Kunst seit 1968«, Kunstmuseum Wolfsburg, Di-So 11-18 Uhr

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