Weiße Midlife-Krise
Alarmierende Todesraten unter weißen US-Amerikanern zwischen 45 und 54 Jahren
Wenige hochentwickelte Länder warten mit so vielen und so seltsamen Todesursachen im Privatleben auf wie die USA. Viele bizarre Todesfälle ereignen sich in Verbindung mit Schusswaffenbesitz - nach aktuellen Angaben gab es innerhalb von 1004 Tagen 994 Massenschießereien, fast eine täglich. Dass einer der jüngsten Zwischenfälle nicht Eingang in die Statistik fand, ist dem Zufall zu danken: Bei einem Wüstenausflug in Arizona hatte ein Großvater seine fünfjährige Enkelin mit geladener Pistole und der Aufmunterung zurückgelassen, sie möge »auf alle schießen, die böse sind«, während er sich bei einem Imbiss »ein paar Drinks und einen Cheeseburger« gönnte.
Schwer fassbare Todeszahlen, die nichts mit Schusswaffen, aber mit den USA zu tun haben, beschäftigen jetzt die Wissenschaft. So ermittelten die Wirtschaftsprofessoren Ann Case und Angus Deaton von der Princeton University, dass in den vergangenen gut 15 Jahren entgegen sonstigen nationalen wie internationalen Trends eine beachtliche Zunahme von Todesfällen unter 45- bis 54-jährigen weißen US-Amerikanern zu verzeichnen ist. Das Phänomen, von der Wissenschaft »bisher übersehen« worden, betreffe namentlich schwach gebildete Bürger in wirtschaftlicher Klemme. Es hat nach Angaben des Londoner »Guardian« von 1998 bis heute zu einer halben Million Todesopfern geführt, die nicht zu beklagen gewesen wären, hätte sich der langjährige Trend zum Rückgang der Sterblichkeitsraten in besagter Altersgruppe fortgesetzt. Das Ausmaß nähere sich schon jetzt der Gesamtzahl der 630 000 Aids-Toten in den USA seit Ausbruch jener Epidemie 1981 bis Mitte 2015.
Die neue Form der weißen Midlife Crisis, die sich anschickt, die Zahl der Aids-Toten bald zu übertreffen, hat die Wissenschaftler laut Professorin Case »absolut unvorbereitet getroffen und uns regelrecht vom Stuhl gehauen«. Die Studie bezog nicht nur nationale Erhebungen aus den USA, sondern aus weiteren sechs Industriestaaten, von Kanada, Deutschland und Schweden, von Großbritannien, Frankreich und Australien ein. Dabei zeigte sich, dass die Sterblichkeitsziffer der 45- bis 54-jährigen weißen US-Bürger zwischen 1978 und 1998 jährlich um etwa zwei Prozent sank, ein Wert, der weithin mit den Verbesserungen anderer entwickelter Staaten übereinstimmte. Seit 1998 jedoch fallen die Sterblichkeitsraten weißer Amerikaner zwischen 45 und 54, und insbesondere solcher mit geringer Bildung und in wirtschaftlich prekärer Lage, aus dem Rahmen: Während der Trend zum Rückgang der Sterblichkeitsraten in besagter Altersgruppe in anderen Industriestaaten anhält, begann er für die zitierte Gruppe in den USA jährlich um ein halbes Prozent wieder zu steigen.
Und die Ursachensuche? Die Professoren stellten fest, dass weiße amerikanische Männer und Frauen zwischen 45 und 54 in wachsender Zahl durch Drogen, Alkohol und durch Selbstmord sterben. Laut Professorin Case betrifft das weiße US-Amerikaner aller Bildungsstufen, in besonders hohem Maße aber solche mit geringer Bildung und in größerer ökonomischer Bedrängnis. Im Einzelnen führen die Wissenschaftler den wachsenden Konsum immer stärkerer Schmerzmittel sowie zunehmenden Alkoholmissbrauch als begünstigende Faktoren für die veränderten Sterblichkeitsraten an. Doch sie legten, wohl zu Recht, auch Wert auf die Feststellung, dass »finanzielle Sorgen ebenfalls eine Rolle spielen«.
Tatsächlich ist das Realeinkommen vieler US-Bürger seit Jahren rückläufig und im Bereich der medizinisch jetzt auffällig gewordenen verlorenen Generation besonders stark. Insofern ist die Studie der Princeton-Professoren spätestens beim zweiten Blick wenig überraschend: Die weiße Midlife Crisis, made in USA, widerspiegelt privat die Folgen einer Wirtschaftskrise, die für Top-Manager vorbei sein mag, für viele Normalsterbliche aber nicht mal auf dem Totenbett endet.
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