Seelsorger der Nation
Im Kino: »Domian - Interview mit dem Tod« von Birgit Schulz
Bei ihm beichteten Mörder, Vergewaltiger, Lottomillionäre und Priester. Öffentlich - für jedermann und jedefrau hörbar im Radio und im TV. In jeder einzelnen Nacht. Immer montags bis freitags. Seit zwanzig Jahren, wie es in der Doku von Birgit Schulz heißt. Jürgen Domian (57) ist Fernseh- und Radiomoderator beim Westdeutschen Rundfunk. Seelsorger einer Nation, Seelsorger von Generationen. Für die Einen. Für die Anderen ein Scharlatan. Zwanzigtausend Nachtgespräche, zwanzigtausend Schicksale. Zwanzigtausend heikle Themen, die am Tag in einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt nie gesendet würden - und daher seit jeher im Nachtprogramm beheimatet sind. »Die Nacht öffnet die Seelen. Menschen sprechen dann anders miteinander«, hat Jürgen Domian im Lauf der Jahre festgestellt. Sein eigener Biorhythmus steht Kopf. Wer die Nacht zum Tag macht, den versteckten Abgründen der Menschen am anderen Ende der Telefonleitung ihre dunkelsten Schleier entreißt, braucht am Morgen nach der Sendung, dann, wenn Otto Normal gerade erwacht, nicht nur Pillen zum Einschlafen. Jürgen Domian regeneriert wochenlang in Lappland, im höchsten Norden Schwedens. Da, wo im Sommer die Sonne nie untergeht, lässt der Radiomoderator die Dämonen seiner Gesprächspartner hinter sich - und kämpft gegen seine eigenen. »Jeder Lappland-Aufenthalt beginnt mit diesem Kampf. Und jedes Mal lösen sich nach einiger Zeit meine Dämonen in Luft auf.«
Jürgen Domian kennt den Kampf. Den eigenen, und den seiner Hörer und Hörerinnen. Den Kampf der kleinen Leute. Um das Normale. Und um das scheinbar Unnormale, um das Leben hinter der Fassade. Aufgewachsen ist er als Sohn westpreußischer Einwanderer im Bergischen Land: Hauptschule. Bürgerlichkeit. Spießigkeit. »Mir wurde vermittelt, dass ich als Hauptschüler nichts wert bin«, erinnert er sich. Dennoch unbändig sein Wunsch, ein humanistisches Gymnasium zu besuchen. »Ich wurde ausgelacht«, bekennt der Radiomoderator. Wunden brechen auf, doch letztlich siegt sein Wille. Der Rektor eines Gymnasiums erhört sein Gesuch - wenn er bereit und willens sei, zu lernen, drei Jahre lang. »Ich habe keine Sekunde gezögert«, blickt Jürgen Domian zurück. Ein Jahr später wählen ihn seine Mitschüler zum Schülersprecher. Er lernt: Der, der etwas bewegen will, kann etwas bewegen. Eine Lektion, die kein Arzt, kein Therapeut erteilen kann. Eine Lektion, die Jürgen Domian seinen Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen in seiner späteren Karriere als Radiomoderator immer wieder mit auf den Weg gibt. Hundertfach.
Wenn Jürgen Domian im WDR seine Nachtbeichte hält, zieht es die Menschen ans Radio. Den Bäcker, der noch eine Stunde früher aufsteht, bevor die Gesellen die Backstube betreten. Die LKW-Fahrerin in der tiefen Nacht im Speditionsdienst auf dem Weg von Westfalen nach Nordhessen. Den Tankwart bei seiner Nachtschicht. Sie treffen am Radio auf den habgierigen Mörder, auf die Frau, die zwei Lebensgefährten verlor, aber nicht ihre Lebenskraft. Auf den Vater, der sich die Schuld am Feuertod seines Sohnes gibt. Und auf die Frau, die 41 lange Jahre darunter litt, nicht den Mut zu haben, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden zu lassen - und dessen demenziöses, letztlich tödliches Dahinvegetieren nun ihre (unverholene) Rache ist. Jürgen Domian nimmt ihr die Beichte ab. Erteilt moralische Absolution. Obwohl Beichte und Absolution ursprünglich Begriffe aus der christlichen Gedankenwelt sind, aus einer Gedankenwelt, die Jürgen Domian schon lange hinter sich gelassen hat - in einem schmerzlichen Kampf. Wieder ein Kampf. Einer, der für Jürgen Domian in Bulemie endete. In einer Lebenskrise, in Einsamkeit und Selbstzweifeln. Zwei Jahre lang. »Nietsche und Feuerbach haben meine Welt- und Wertvorstellungen grundlegend verändert. Das war eine existenzielle Erfahrung«, bekennt der in Jugendtagen tiefgläubige Radiomoderator heute. Zum Glauben zurückgekehrt ist er nicht. Obwohl auch der Tod ein täglicher Bestandteil seiner Arbeit ist
»Der Tod ist das größte Mysterium der menschlichen Existenz. Das grauenhafte Wissen, nur eine kurze Zeitspanne auf dieser Erde zu sein«, umreißt Jürgen Domian das Thema, das über zwei Jahrzehnte tagein, tagaus die überwiegende Anzahl seiner Gesprächspartner beschäftigt hat. Den Leukämiekranken im Endstadium oder den Todessehnsüchtigen, der am Telefon seinen Gedanken freien Lauf lässt. Vor aller Öffentlichkeit - und doch im Schutz der Nacht. Klar, dass jemand wie Jürgen Domian seinen ganz eigenen Plan hat, wie sein Danach aussehen soll: »Ich würde die in Deutschland leider verbotene asiatische Himmelsbestattung bevorzugen«, sagt Jürgen Domian. »Denn es ist für mich eine schöne Vorstellung, dass mein Körper einem anderen Lebewesen Energie spenden kann.« Ein letztes Bekenntnis. Statt Friedhof oder Urnengrab Weiterleben im Kreislauf einer Nahrungskette.
Voraussichtlich Ende 2016 wird Jürgen Domian die Moderatorentätigkeit seiner Nacht-Talkshow aufgeben. Gottseidank, werden die Einen sagen. Doch für die Anderen werden die Nächte ohne Jürgen Domian eine Nummer dunkler sein.
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