Die fünfte Welle

Peter R. Neumann hat ein bedrückendes Buch über den Islamischen Staat und Dschihadisten in Europa geschrieben

  • Yolanta Schielmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Europa steht am Beginn einer neuen Welle des Terrorismus, die uns noch eine Generation lang beschäftigen wird«, ist Peter Neumann überzeugt, der dieser Tage ein vielgefragter Talk-Show-Gast ist. Woher nimmt er seine Gewissheit? Vielleicht ist die beängstigende Kette furchtbarer Anschläge jüngst nur ein Strohfeuer, ein letztes Aufbäumen des Islamischen Staates? Wer das glaubt, wird mit diesem Buch leider eines Besseren belehrt. Wobei der Autor betont, keine Panik verbreiten zu wollen und nachdrücklich vor einer Polarisierung der Gesellschaft, vor Vorurteile und Ausgrenzung der Muslime warnt.

Der Professor für Sicherheitsstudien am King's College in London wählte als theoretisches Korsett seiner Darstellung das nicht sehr überzeugende Wellen-Konzept des US-Historikers David Rapoport, der seit dem späten 19. Jahrhundert vier Wellen des Terrorismus zählte, die jeweils ungefähr eine Generation angedauert hätten: die anarchistische und die antikolonialistische Welle, die »Neue Linke« und schließlich die religiös motivierte. Nun, weder Pjotr Kropotkin, Vater des Anarchokommunismus, noch der einstige Marx- und Engels-Freund Johannes Most oder der für die Befreiung Algeriens streitende französische Schriftsteller Frantz Fanon (»Die Verdammten dieser Erde«) waren Menschenfeinde und Massenmörder. Was Neumann sehr wohl weiß. Wie er sich auch bewusst ist, dass das Wort »Terrorismus« oft missbraucht wurde, um revolutionäre Bewegungen zu diskreditieren. Selbst die US-Untergrundorganisation Weatherman oder die RAF, seien deren Anschläge auf und Entführungen von Protagonisten des von ihnen bekämpften Systems auch zu verurteilen, sind nicht gleichzusetzen mit den islamistischen Fanatikern heute, die wahllos morden.

Eigentlich hätte Neumann der bei Rapoport geborgten Klammer gar nicht bedurft. Man wünschte sich eher, dass er den Einstieg zu seinem eigentlichen Thema feiner ziseliert, die Hintergründe des Afghanistankrieges der 1980er Jahre näher beleuchtet hätte - mit dem, wie hier zu lesen ist, die vierte Welle begann, »der Dschihadismus erst zu einer wirklich globalen Bewegung wurde«. Lapidar heißt es, die Sowjetunion sei ins Land am Hindukusch einmarschiert, um »einen ihr freundlich gesinnten Herrscher« zu installieren. Fakt ist, Moskau wollte die unter Nur Muhammad Taraki begonnene säkulare, auf gesellschaftliche Umgestaltung und Modernisierung (Bodenreform, Alphabetisierung, Frauenemanzipation) orientierte Saurrevolution vor der Attacke islamischer Extremisten retten. Dass dies nicht geglückt ist, müssten selbst Antikommunisten heute als einen Fluch begreifen.

»Die Amerikaner wollten den Sowjets inmitten des Kalten Krieges eine blutige Nase verpassen«, kommentiert Neumann die von Washington nach dem Sowjeteinmarsch mit Saudi-Arabien und Pakistan geschmiedete obskure Koalition. Damals wurde das Übel geboren, das uns noch heute beschäftigt, freilich in weit größerer Dimension, da inzwischen die USA weiter Öl ins Feuer gossen mit ihren militärischen »Abenteuern« nach Nine/Eleven.

Die Internationalisierung des Afghanistan-Konfliktes sei das Lebenswerk des palästinensischen Islamgelehrten Abdullah Azzam, schreibt Neumann. Dessen furchtbarster Rekrut war Osama bin Laden, der den Abzug der Sowjets 1989 gern an seine Brust heftete, was aber nicht stimme, so der Autor. Azzam, der Begründer und Pate des globalen Dschihadismus, erlag 1989 einem Sprengstoffanschlag, dessen Hintermänner bis heute nicht bekannt sind. Verdächtigt werden u. a. westliche Geheimdienste, denn mit dem Abzug der Sowjets hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan. Als ein Hauptverdächtiger gilt aber auch bin Ladens Stellvertreter Ayman al-Zawahiri, der das Modell für einen Islamischen Staat entwarf, das nun Bakr al-Baghdadi, der selbst ernannte »Kalif Ibrahim«, brutalst zu realisieren versucht.

Neumann stellt nicht nur die diversen dschihadistischen Gruppen - von Nigeria über Nordafrika bis zum Nordkaukasus insgesamt 49 - und miteinander rivalisierende Dschihadistenführer vor, sondern benennt auch die Unterschiede etwa zwischen al-Qaida und dem Islamischen Staat. Vehement widerspricht er Jürgen Todenhöfer, der den IS eine »Ein-Prozent-Bewegung mit der Wirkung eines nuklearen Tsunamis« nennt; das sei die Botschaft, die der Islamische Staat dem Westen vermitteln wolle. In Wirklichkeit sei er nicht homogen und ideologisch geeint, sondern ein Hybrid aus Aufstandgruppe und Staat. Unter seiner Fahne stünden »wahre Gläubige«, Opportunisten und Abenteurer, so Neumann. Schätzungen divergieren zwischen 20 000 bis 200 000 Kämpfer. Militanter, brutaler und gefährlicher als die syrischen und irakischen Fußsoldaten seien die Muhādschirūn, die Auslandskämpfer, die ca. 40 Prozent der Kerntruppe stellen, sie ideologisch dominieren und den transnationalen Anspruch repräsentieren. Sie kämen aus dem gesamten arabischen Raum, ein Fünftel aus ehemaligen Sowjetrepubliken und weitere 20 Prozent aus dem Westen. »Sie kämpfen nicht für Familie, Freunde oder Dorf, sondern für die abstrakte Idee der Umma, einer weltweiten Gemeinschaft der Muslime.«

Die jüngsten Anschläge - von Ottawa im Oktober 2014 bis zum Überfall auf die Redaktion von »Charlie Hebdo« im Januar dieses Jahres - sieht Neuman als Zeichen für das Anrollen einer fünften Welle. Das Massaker in Paris am Freitag, dem 13., scheint ihn zu bestätigen. Doch was ist zu tun? Neumann warnt vor dem Irrglauben einer rein militärischen Lösung, wobei er gezielte Luftschläge nicht ausschließt. Es bedürfe jedoch darüber hinaus einer systematischen, langfristigen und umfassenden Strategie der Eindämmung des IS, u. a. durch einen »New Deal« für die irakischen Sunniten, die ideologische Auseinandersetzung on- und offline sowie mehr Leidenschaft - und nicht nur mehr mehr Geld und Personal - für nationale Prävention und Deradikalisierung.

Auch wenn Neumann sich zu letzterem nicht detaillierter äußert, sei das hoch aktuelle, bedrückende Kompendium, das man fast atemlos in einem Zug liest, zur Lektüre empfohlen. Zumal sich hier ein kundiger Autor zu Wort meldet, der nicht nur aus Studien in einsamem Kämmerlein, sondern aus Begegnungen und Erlebnissen in Krisenregionen sein Wissen und seine Urteile schöpft.

Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten. IS Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Econ, Düsseldorf 2015. 256 S., br., 16,99 €.

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