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Ein Licht wie flüssiges Kupfer
Holger Teschke hat mit »Mein Cape Cod« den Anker geworfen, der Erinnerung heißt
Worüber jemand schreibt, dorthin zieht es ihn. Er befestigt sich mit Buchstaben in unsicherem Gelände. Das ist wie Anker werfen auf hoher See. Eher eine rituelle Handlung, die demonstriert: Hier möchte ich gern bleiben. Aber jede neue Welle treibt das Schiff, samt Anker ein Stück weiter. Wohin? Dem nächsten Hafen oder Meeresboden entgegen, wer weiß das schon.
Holger Teschke, der überaus belesene Autor und Theaterkenner, hat mit »Mein Cape Code« ein Buch schweifender Sehnsucht geschrieben und gleichzeitig den Anker geworfen, der Erinnerung heißt. Das Buch als Selbsthelfer, das kennen wir von H. D. Thoreau, der mit »Walden« eine zeitlang in die Wildnis ging um dort zu leben, als wäre er der erste Mensch und erfände die Zivilisation neu. Vielleicht flüchtete er auch aus dem urbanen Trubel, um seine Ruhe zu haben und zu wissen, wie sich die einfachen Dinge des Lebens anfühlen, wenn sie nicht mehr selbstverständlich sind: auf schöne Weise schwer, also mit neuem Gewicht.
Der 1958 auf Rügen geborene Teschke schreibt über eine Gegend, die mir vollkommen fremd ist: Cape Cod, eine Küste der USA, nicht irgendeine, so weiß man, hat man dieses so persönliche Buch gelesen. Für Teschke ist es ein Ort der Verwandlung in jenes »andere Leben«, das H. D. Thoreau suchte, als er vom »nackten und gebogenen Arm von Massachusetts« sprach. Dieses Bild zieht sich wie eine Geheimchiffre durch Teschkes Aufzeichnungen. Für ihn ist Lesen immer eine Form des gesteigerten Lebens. So jemanden muss man heute lange suchen, einen, der lesend wie schreibend immer zugleich Erinnerung und Vision kultiviert: ein Sehen, bei dem Horizonte verschmelzen. Aber er enthält uns auch die prosaischen Fakten nicht vor: Cape Cod ist eine bei den Seefahrern wegen ihrer Stürme und Untiefen gefürchtete Gegend, das »Grab des Atlantik«.
Was macht diesen Bericht über Cape Cod, jene Landspitze von Massachusetts, auf so fantastische Weise gegenwärtig? Vermutlich ist es das ständige Wandern des Autors zwischen Zeiten und Orten, zwischen Erlebtem und Gelesenem. Was führt einen, der auf Rügen geboren wurde, den man aus dem Berliner Literatur- und Theaterbetrieb kennt, denn nun eigentlich nach Massachusetts?
Für ihn ist das Meer ein Teil seines Lebens, aber keineswegs nur als poetisches Bild. Denn Teschkes Reise nach Cape Cod begann im Grunde bereits, als er auf einem Fischkutter lernte - noch mitten in der DDR -, dass die See zwar oft wie eine unendlich weite und leere Fläche wirkt, es aber darunter auf eine Weise lebt, für die man sein Verständnis erst schulen muss. Dass er auf einem Schiff arbeitete und dieses nicht als mehr oder weniger luxuriöse Freizeitbeschäftigung kennen lernte, gibt auch seinem Buch einen geradezu vorpommerschen Ernst.
Bereits die ersten - wahrhaft furiosen - Sätze des Buches zeigen, wohin die Reise auf den kommenden 230 Seiten gehen soll: »Das einzige Buch, das mein Vater mir je in die Hand drückte, war ›Moby Dick‹. Er fuhr als Kapitän auf dem Kutter SAS ›Narwal‹ des Fischkombinats Sassnitz auf Rügen zum Fischen in die Nord- und Ostsee und manchmal auch bis in den Nordatlantik auf die Georges Bank, wo er seinen ersten Wal gesehen hatte. Ich muss zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als er mir das Buch gab mit der Bemerkung: ›Damit du schon mal weißt, was auf See los ist.‹«
Auch Wale kommen darum natürlich in »Mein Cape Cod« vor, aber ebenso der Maler Edward Hopper und jenes einmalige Licht, in dem er seine Bilder leuchten ließ: das Licht von Cape Cod. Wer alles hierher kam, können wir, die wir noch nie in diese Weltgegend kamen, kaum vermuten! Von Georges Grosz bis O’Neill waren sie alle hier und veränderten so diese traditionell vom Fischfang lebende Gegend. Das ist dem Rüganer Maschinisten, den Holger Teschke immer überall hin mit sich trägt, natürlich eine Form von vorweggenommener Beheimatung. Denn er kannte Hoppers Licht längst, bevor er überhaupt je ein Bild von ihm gesehen hatte. Da saß er, wie er schreibt, auf dem Vorschiff seines Kutters, war auf der Heimreise von seinem ersten Fischzug und fuhr in das Abendlicht von Kap Arkona hinein: »Genau solch ein Licht wie aus flüssigem Kupfer strahlte jetzt von der gegenüberliegenden Küste und spielte auf Sand und Dünen.« Das sind die schönsten Erschütterungen eines Mannes, der viele Fahrten unternahm: die Erinnerungen an ein erstes Mal, das hier als ein buchstäbliches Wiedersehen doppelt beglückt. Der belesene Autor versichert sich gern bei anderen, dass es ihnen auf ihre Weise ähnlich ging. Das Buch ist übervoll von Übertritten von Gelesenem zum Selbst-Gesehenem und wieder zurück.
Natürlich ist es vor allem Melvilles »Moby Dick«, der sich durch das Buch zieht, als ein kulturgeschichtliches Dilemma von höchster poetischer Ausdruckskraft, an dem wir immer noch zu tragen haben. Wie der Mensch seine stammesgeschichtlichen Ursprünge im Meer findet, so auch die Objekte seiner Freude und seines Hasses. Seine Götter! Wenn wir von jenem Kapitän Ahab lesen, der den Wal als Inbegriff des Bösen jagt - und sich in diesem Fanatismus in eine rücksichtslose Kampfmaschine verwandelt, sein eigenes Schiff und dessen Besatzung in diesem »heiligen Krieg« opfert, stecken wir im vermeintlichen Idyll Cape Cod tief drin in den Schlachten der Gegenwart.
Darum lesen wir bei Teschke auch: »Manchmal tut es gut, sich wie die einzigen Menschen auf Cape Cod zu fühlen, wenn gerade kein Schiff und kein Flugzeug am Horizont zu sehen ist.« Dieses »wenn« macht einen nicht beträchtlichen Teil des Reizes dieses Buches aus: Es bleibt noch dort, wo es naiv scheint, tief nachdenklich.
Ein Reiseführer? Das wohl kaum, eher ein Buch über das Reisen, das selbst dann, wenn es in fernste Gegenden führt, immer wieder nur der Versuch ist, sich dem eigentlichen unbekannten Bezirk anzunähern: dem eigenen Ich. Insofern ein Verführer zum Selber-Denken, ein Selbsthelferbuch ganz im Sinne des von Teschke so geliebten H. D. Thoreau und seiner Bibel des autonomen Menschen namens »Walden«.
Holger Teschke, Mein Cape Cod, mare Verlag, 231 S., geb., 18 €.
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