»Demokratie allein macht nicht satt«

Friedensnobelpreisträger Houcine Abassi über die Notwendigkeit von Kompromissen im demokratischen Prozess

  • Lesedauer: 4 Min.

Als Motive der Unruhen in Tunesien 2010/2011 galten die Unzufriedenheit wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage großer Teile der Bevölkerung trotz Wirtschaftswachstums von rund fünf Prozent, der Ärger über stark angestiegene Lebensmittelpreise und Energiekosten, über schlechte Perspektiven der Jugend sowie über das autokratische und korrupte Regime von Staatspräsident Ben Ali. Das Regime ist weg, Tunesien auf einem demokratischen Weg, aber wie steht es um die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit und die Perspektiven?

Wir haben Grund, stolz auf unseren demokratischen Weg zu schauen. Libyen, Ägypten und andere führen uns vor Augen, dass die Arabellion nicht überall in Demokratie mündete. Aber wir können die Augen auch nicht davor verschließen, dass junge, gut ausgebildete Tunesier das Land noch immer Richtung Europa verlassen, weil sie bei uns keine Perspektive sehen. 60 Prozent unserer Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt. Für sie brauchen wir dringend Investitionen, die zu mehr Arbeitsplätzen führen.

Aber wer investiert in Tunesien angesichts von Terroranschlägen und desolaten Nachbarländern wie Libyen und in gewisser Weise auch Algerien?

Gerade wegen der Versuche des Islamischen Staates (IS), unsere Wirtschaft durch Terroranschläge zu destabilisieren und die Hoffnungen junger Menschen auf eine gute Perspektive in Tunesien zu zerstören, müssen wir und unsere europäischen Partner investieren. Wir dürfen nicht in die Falle des IS tappen und den Terroristen erlauben, unser kleines Land in Besitz zu nehmen. Wie die Anschläge in Paris und anderswo in Europa gezeigt haben, ist Terrorismus nichts typisch Arabisches; er ist eine globale Gefahr. Wegen des Terrors in Paris wird es keinen Investitionsstopp in Frankreich geben, und niemand spricht deshalb eine Reisewarnung für Frankreich aus. Diese realistische Haltung erhoffe ich auch gegenüber Tunesien. Im ersten Halbjahr 2015 stiegen die ausländischen Investitionen bei uns noch um 60 Prozent.

Ich habe von der Absicht der Gewerkschaft gehört, in einen Generalstreik zu treten, wenn die Forderung nach 17 Prozent höheren Löhnen nicht erfüllt wird. Ist eine solche Forderung in der fragilen Situation des Landes sinnvoll? Die Arbeitgeber bieten zwei Prozent.

Erstens bleibt es unsere Pflicht als Gewerkschaft, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Sechs Prozent Lohnerhöhung würden nicht einmal ausreichen, die Inflation zu kompensieren. Ich erwarte, dass die Arbeitgeber ihren Teil zur Stabilität beitragen. In der akuten Krise haben sie gut verstanden, dass wir gemeinsam handeln müssen, um Gewaltausbrüche zu verhindern. Wir haben auf diesem Weg viel erreicht. Aber Demokratie allein macht nicht satt, und Wirtschaftswachstum bedarf auch eines florierenden Binnenmarktes. Insofern sehe ich höhere Löhne durchaus als Beitrag sowohl zur Stabilität als auch zu mehr Binnenkonsum. Und wenn Unternehmer in höheren Löhnen ein Opfer sehen, dann kann ich nur sagen: Alle müssen in dieser Phase Opfer bringen, nicht nur die Arbeiter. Wir stehen erneut an einem Scheideweg, der wieder Verhandlungen und Kompromisse nötig macht. Wenn es gelingt, den begonnenen demokratischen Prozess fortzusetzen und weiter zu stabilisieren, nützt das letztlich nicht nur Tunesien. Vielmehr ginge damit eine positive Botschaft an die Nachbarländer aus, eine Ermutigung zum Ablassen von kriegerischen Auseinandersetzungen.

Politikwissenschaftler zweifeln an dieser Vorbildfunktion des Beispiels der tunesischen Revolution. Zu unterschiedlich seien die Bedingungen, nicht jeder habe eine starke traditionsreiche Gewerkschaftsbewegung wie in Ihrem Land, nicht überall lassen sich Anhänger eines politischen Islam auf zielorientierte Gespräche mit säkularen Kräften ein.

Mir geht es nicht um Kopien unseres Weges, der tatsächlich sehr spezifisch war. Es gab keine Einmischung aus dem Ausland. Einen solchen eigenständigen Weg muss jedes Land für sich finden und hängt dabei von der Stärke der Zivilgesellschaft, ihren Organisationen und weiteren Faktoren ab. In jedem Fall aber gilt: Dialog ist unumgänglich, selbst im Krieg. Er kann - wenn es keine ausländische Unterstützung für eine der beteiligten Seiten gibt - erfolgreich sein. In Libyen wurden die Prozesse hauptsächlich vom Ausland gesteuert, und das fatale Ergebnis kennen wir.

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