Ein Kontingent an unterlassener Hilfeleistung
Obergrenzen, Kontingente und Quoten können den Tod vieler Flüchtlinge bedeuten
»Kontingent« ist das neue It-Wort in der Flüchtlingspolitik. Es klingt nicht so herzlos wie eine Obergrenze und sagt dennoch dasselbe aus. Aber neu ist eine solche Regelung nicht. Früher sagte man »Quote« dazu – und die hat Toten toleriert, die so eine Regelung mit sich bringt.
Schon die Vereinigten Staaten hatten ab 1924 eine Kontingentlösung. Sie nannten es nur Quotenverfahren. Auch sie wollten sich seinerzeit vor »Überfremdung« schützen. Besonders die Menschen aus Osteuropa schienen mit dem »weißen Amerika« unvereinbar. Also legte man eine Gesamtzahl, gemessen an der Gesamtbevölkerung von 1890 fest, und zerschnitt das Gesamtkontingent in verschiedene Gruppen, die man quotierte.
Weiße Westeuropäer schnitten hierbei natürlich besser ab. Osteuropäische Völker gerieten in Nachteil und wer zu spät kam, der konnte seine Hoffnungen auf Auswanderung begraben. Besonders dramatisch wurde die Lage dann, als die antisemitische Politik der Nationalsozialisten dazu führte, dass die Zahl der jüdischen Auswanderer massiv anstieg und diese wiederum an der Quote scheiterten. Auf der internationalen Konferenz von Évian wollte man dann die Möglichkeiten der Auswanderung für deutsche Juden vereinfachen. Aber es gab keinen Konsens zwischen den Ländern. Und die USA hielten sich strikt an die festgelegten Quoten und lockerten sie nicht. Zwar ahnte man damals noch nicht, dass das Schicksal gescheiterter Juden in Todeslagern enden würde. Aber rückblickend kann man sagen, dass diese Quotierung viele Menschen dem Zugriff ihrer Peiniger auslieferte.
Wahrscheinlich wird man also auch jetzt Prozentzahlen festlegen. Von 100.000 Flüchtlingen dürfen dann vielleicht nur noch zwei Prozent Afrikaner und 0,5 Prozent Sinti und Roma sein. Unter Umständen misst sich die Zahl der gewährten Plätze ja auch an der jetzigen Gesamtbevölkerung, sodass vielleicht 0,5 Prozent von 80 Millionen pro Jahr insgesamt ins Land dürfen, die sich dann wiederum ethnisch in Kontingente unterteilen. Das Kontingent soll angeblich die begriffliche Idee der Sozialdemokraten sein. Und die Konservativen pflichten dieser Methode natürlich zu und halten sich mal zurück mit ihrer Fokussierung auf so genannte Obergrenzen. Mensch, die Sozis, die haben aber auch immer die besseren Begriffe, sagen sie sich. Die kriegen es hin, nicht ganz so brutal und endgültig in den Ohren zu klingen. Da muss die Union noch viel Euphemistik studieren, um so ein Kaliber in die Debatte einzustreuen.
Ja, ich weiß. Machen wir uns nichts vor. Geschichte ist nicht immer identisch. Manches ähnelt sich und ist doch verschieden. Damals und heute sind zwei unterschiedliche Welten. Was aber Quotierung und Kontingentierung gemein haben, liegt auf der Hand. Beide Verfahren übergeben Menschen in Not ihren Peinigern. Sie belassen sie in ihrem Elend und entlassen sie in den Tod. Kontingente für heutige Flüchtlinge bedeuten nämlich auch, dass man Sinti und Roma weiterhin von Orbán drangsalieren lässt. Dass man Syrer die Wahl lässt, ob sie von den Brigaden des IS, den so genannten Rebellen oder den Assad-Batallionen gejagt werden wollen. Es bedeutet, dass afrikanische Bauern weiterhin mit den Folgen von Freihandel und Klimawandel fertigwerden müssen, bis sie zu schwach sind, um überhaupt noch zu versuchen, diesen Hindernissen zu trotzen. Es heißt ferner, dass man durch physische und psychische Gewalt traumatisierte Menschen zur wehrlosen Beute ihrer Häscher degradiert.
Man hat den Vereinigten Staaten damals viele Vorwürfe gemacht. Viele Juden haben noch im KZ mit den Amerikanern gehadert. Hätte man die Quotierung außer Kraft gesetzt, wären es wesentlich weniger Shoa-Opfer gewesen. Die USA ist natürlich nicht schuld an den Nazi-Verbrechen. Aber sie haben quotenbedingt weggeschaut. Und das ist der gemeinsame Nenner von Quote und Kontingent. Wegschauen, dichtmachen und nicht so genau wissen wollen, wessen Todesurteil man durch unterlassene Hilfeleistung besiegelt hat. Wir wollten jedenfalls so viel aus jenem dunklen Kapitel von damals lernen. Zum Beispiel, dass man in einer solche Situation kontinental zusammenrücken muss, um adäquat helfen zu können. Und dann tischen sie nur diesen schalen alten Wein in neuen Karaffen auf. Ja, selbst der Zentralrat der Juden möchte nun Obergrenzen. Und dieser Umstand ist in dieser Lage besonders tragisch. Wir sind heute in etwa so weit wie '38 in Évian.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.