Aufstieg in die Einzelteilkontrolle

23 Jahre nach seinem Tod liegt das Prosawerk von Richard Yates komplett auf Deutsch vor

Es ist keine besonders gute Idee, wenn ein frisch verheiratetes Paar mit der Mutter und dem Bruder der Braut zusammenzieht. Doch was tut man nicht alles, wenn das Haus groß und bezahlbar ist. »Von Anfang an war in diesem künstlichen Haushalt das Abendessen das beklemmendste Ereignis des Tages. … ›Ach, ist das nicht schön‹, sagte Gloria oft am Beginn des Essens, und wenn Phil sie zufällig anblickte, konnte er jedes Mal sehen, wie sehr sie sich davor fürchtete, dass an diesem Abend wieder mal nur ihre eigene Stimme am Tisch zu hören sein würde. Zweimal in der ersten Woche verschlimmerte sie noch das allgemeine Unbehagen, indem sie mit wehleidiger Stimme sagte: ›Tja; ich dachte immer, beim Abendessen unterhält man sich.‹«

Es ist das Jahr 1942. Mit dem Umzug nach Cold Spring Harbor geht für Gloria Drake ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Dort, an der Nordküste von Long Island, wittert sie »altes Geld« - »große oder bescheidene Familienvermögen, die über Generationen weitervererbt wurden«. Deshalb ist sie schon sehr glücklich, als sie in New York durch einen Zufall Charles Shepard kennenlernt, der mit seiner Familie in Cold Spring Harbor wohnt und in dem sie einen Repräsentanten dieses »alten Geldes« vermutet. Zwar ist die Enttäuschung groß, als Gloria feststellen muss, dass das Haus der Shepards nicht viel hermacht. Doch sind die Bande zwischen den beiden Familien bereits geknüpft, da Charles’ Sohn Evan und Glorias Tochter Rachel zueinander gefunden haben. Gloria, ihr Sohn Phil und das junge Paar ziehen also in die Nähe der Shepards, und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Über die Schmerzgrenze hinaus beschreibt Richard Yates auch in seinem letzten fertiggestellten Roman die Qualen und Ängste der unteren Mittelschicht in den USA um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Immer sind die Menschen von Aufstiegsambitionen getrieben, immer wollen sie mit Gewalt mehr darstellen, als sie sind, immer leben sie in der Illusion, die eigene Familie, zumindest aber die eigenen Kinder, könnten etwas Besonderes sein. Dafür redet man sich wie Gloria bis zur Besinnungslosigkeit aller Beteiligten und schämt sich noch dafür, dass der Wintermantel zu billig und der Ex-Mann zu klein ist. Oder man empfiehlt - wie Charles Shepard - sich dem eigenen Sohn als Nichtvorbild: »Du wirst bald vierundzwanzig, und mir scheint, du solltest dein Leben langsam selbst in die Hand nehmen. Damit will ich sagen, dass du, wenn möglich, etwas mehr wie Joe Raymond sein solltest und etwas weniger wie ich.« Doch Evan sieht zwar blendend aus, zeichnet sich aber durch eine außerordentliche Trägheit aus und verschiebt Jahr für Jahr den geplanten Besuch des Colleges. So ist der Aufstieg in die Einzelteilkontrolle in seiner Firma das Aufregendste in seinem Leben, bis er beginnt, heimlich seine erste Frau wiederzutreffen, die er im mittleren Teenageralter geschwängert hatte.

Trotz Kriegszeit bietet nicht einmal das Militär den männlichen Familienmitgliedern Gelegenheit, zu Ehren zu kommen. Charles Shepard kommt Zeit seines Lebens nicht mit der Kränkung klar, dass der Erste Weltkrieg in dem Moment, als er in Europa landete, vorbei war. Und Evan wird überraschend für untauglich erklärt. Phil, Rachels kleiner Bruder, muss erst noch ein paar Jahre an der Privatschule ausharren, auf die er geschickt wurde, weil allein das Wort Privatschule etwas hermacht, auch wenn es sich um eine der günstigsten im Lande handelt. Dort wird ihm die Rolle des Klassentrottels zuteil und er muss grausame Demütigungen erleiden. Dafür sieht er seine Umwelt recht klar: »Phil hatte das Gefühl, er würde nie verstehen, wie es dazu gekommen war, dass er hier mit einem der größten Außenseiter der Irving School stand, beide eine Flasche Cola in der Hand, während eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Erwachsenen so tat, als würde sie sich amüsieren.«

Yates wäre nicht Yates, würde er nicht lakonisch übermitteln, dass selbst das »alte Geld« keine Glücksgarantie mit sich bringt. So schmerzen Harriet Ferris, der wohlsituierten Großmutter von Phils Schulkamerad und Klassentrottelkollegen »Flash«, die Backenzähne, wenn sie den sozialen Abstieg der eigenen Tochter beobachtet. Sie ist nur froh, dass ihr Gatte nicht mehr mit ansehen musste, was trotz günstigster Voraussetzungen aus dem Mädchen geworden ist: eine »träge Schlampe«, die es nach »drei kümmerlich gescheiterten Ehen« aktuell zu einem unscheinbaren glatzköpfigen Kerl im schokoladeneisfarbenen Anzug gebracht hat.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Charles’ Frau Grace dem Alkohol verfallen ist und unter Depressionen leidet und sich Rachel in ihre eigene heile Welt geflüchtet hat, in der sie alle lieb haben kann.

»›Cold Spring Harbour‹ wurde aufgenommen wie die meisten von Richard Yates’ späteren Werken: Es wurde respektvoll, wenn auch nicht spektakulär besprochen, verkaufte sich schlecht, kam nach einem Jahr als Taschenbuch in den Handel und wurde prompt vergessen«, schrieb Stewart O’Nan 1999 im »Boston Review« und beklagte damals, dass Yates’ Bücher allesamt vergriffen seien, obwohl er so viele berühmte Autoren beeinflusste. »Es ist das Beharren auf der unverblümten Realität des Scheitern, das mich bei Yates anzog«, beschreibt O’Nan, der wesentlich zu dessen Wiederentdeckung beitrug. Er schildert die Offenbarung, die es für ihn bedeutete, einen Autor wie Yates zu finden, der verstanden hatte, dass die Welt keinen Trost bietet, und wie erfrischend er seine Schreibweise empfand - im Gegensatz zur »falschen anwidernden Fiktion, die als Realismus durchging«.

Weder Yates’ Figuren, noch deren Träume sind besonders sympathisch. Sie sind einsam, sie sind mehr als gewöhnlich - aber Yates’ Romane sind es nicht. Die größte Trostlosigkeit ist bei ihm nicht ohne Komik, noch die armseligste Figur wird nicht ohne Respekt beschrieben. Und man erkennt sich selbst wieder, etwa wenn Phil innerlich fast vor Wut über Evan platzt, »doch erste eine Stunde später hörte er sich laut zu dem Maschendrahtzaun über der Bucht sagen: ›Ja, du kannst mich mal, Shepard ...‹« Vielleicht ist es genau das, worauf Yates’ Generation nicht erpicht war: sich so perfekt beschrieben zu finden.

Stewart O’Nan gab sich 1999 optimistisch, dass Yates wiederentdeckt werden könnte, so wie F. Scott Fitzgerald und William Faulkner, mit denen er ihn in eine Reihe stellt. Mit »Cold Spring Harbor« liegen, fast 30 Jahre nach Erscheinen des Romans in den USA und 23 Jahre nach Yates’ Tod, alle seine Prosawerke auf Deutsch vor.

Richard Yates: Cold Spring Harbor. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt. 240 S., geb., 19,99 €.

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