Unter jedem Dach ein Ach
Monika Helfer: Ihr Roman »Die Welt der Unordnung« könnte ein Krimi sein, ist es aber nicht
Ein Baum, der mitten auf dem Friedhof stand: Eine Thuja - eines Tages hing in ihrem Geäst ein totes Baby. So könnte ein Krimi beginnen. Der Junge war erst drei Wochen alt. Wer hat ihn umgebracht? Es gibt im Roman von Monika Helfer auch einen Inspektor, der den Mord aufzuklären hat. Zu ihm kommt die neunjährige Samira und meldet ihren Bruder als vermisst. Er lässt sie erzählen. »Es wird bestimmt alles gut«, sagt er dann. »Alles wird gut, Samira«.
Aber es ist nichts gut in diesem Roman, der ein Krimi hätte werden können, aber keiner ist. In kurzen Kapiteln wird in kunstvollen Zeitsprüngen abwechselnd von Samira, ihrer Mutter Mirjam, ihrem Onkel Wolf und dessen Freunden Orang und Utan erzählt, auch vom Arzt Dr. Jochum, dem Vater des Babys, das noch keinen Namen hat.
Sie nennen es Poppele, und es weint immer. Nur wenn der Hund es abschleckt oder in seiner Schnauze vorsichtig durch die Wohnung trägt, lacht es manchmal - aus Überraschung. Es weint, weil es Schmerzen hat. Einmal hat Samira ihm etwas Methadon auf die Lippen geträufelt, da ist es ruhig geworden.
»Die Welt der Unordnung«: Schreckliche Zustände in der Familie Zubromawi. Die Mutter spritzt heimlich Heroin, obwohl ihr der Arzt, zum Dank für ihre Hingabe, Methadon verschreibt. Das tat sie schon während der Schwangerschaft. Und niemand kümmert sich um die Not - nur eben Wolf, der sich als Padrone fühlt. Er sorgt für den Lebensunterhalt. Orang und Utan, beide nicht eben klug, sind immer dabei. Und Samira fährt ihr schreiendes Brüderchen aus …
Da ist also auch Güte im Schlechten, gar nicht so wenig sogar. Und im Guten steckt oft auch Verfehlung. Inspektor Swini weiß von sich mehr als andere, weshalb er ein Säckchen mit Bibelzitaten bei sich trägt. Die hat Monika Helfer dann in den Text montiert. Manche sind rätselhaft.
Wer hat also das Baby umgebracht? Der Inspektor meint, es zu wissen. Irrt er sich nicht? Er muss einen Täter präsentieren. »Und alles ist grausam und ungerecht, und der Tod ist hässlich, und niemand weiß, warum Schmerzen notwendig sind«, sagt er zu seiner Bekannten - Freundin? - Elvira. »Und doch, da wette ich, alles ist notwendig und gut, wenn das Gleichgewicht gehalten wird. Und es wird gehalten …«
Wie Swini das Gleichgewicht zuwege bringt? Man muss manches erraten, denn hier wird viel mehr als dieser Kriminalfall erzählt.
»Unter jedem Dach ein Ach«, der Satz meiner Mutter kommt mir in den Sinn. Verstorben mit 91 Jahren. Aber auf den Friedhöfen wohnen nicht nur die Alten. »Hat einer von euch schon einen jungen Toten in der Familie?« Das fragt Elmar, dessen Freund vor ein paar Tagen mit dem Moped verunglückt war. »Auf dem nassen Laub ausgerutscht und direkt unter die Räder der Müllabfuhr.«
»Ich«, antwortet einer aus der Gruppe. »Mein Bruder hat sich mit sieben aus Versehen an einer Rottanne erhängt. Hat verschiedene Knoten am Wäscheseil ausprobieren wollen …«
Den toten Säugling fand übrigens eine Schriftstellerin. Dass sie jeden Tag auf den Friedhof geht, erfahren wir auf der ersten Seite. Damit wissen wir eigentlich schon sehr viel über das ganze Buch. Erst auf der vorletzten Seite taucht sie wieder auf. Und sie ist dabei, eigenmächtig etwas Unerlaubtes zu tun.
Monika Helfer: Die Welt in Unordnung. Roman. Jung und Jung. 168 S., geb., 18,90 €.
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