Mit Allah gegen Ankara
Botschaft des russischen Präsidenten an sein Land und die Welt
Wladimir Putin war sicher unsagbar müde. In der Nacht zu Donnerstag war er in die südrussische Region Krasnodar geflogen, um dort das erste Teilstück einer »Energiebrücke« in Betrieb zu nehmen, die den Notstand auf der Krim lindert. Nur wenige Stunden später steuerte der Kremlchef forschen Schrittes das Rednerpult im prachtvollen Georgen-Saal des Großen Kremlpalastes an, um seine Jahresbotschaft zu verkünden. Dabei ging er sofort hart zur Sache.
Gleich im ersten Satz dankte er den russischen Soldaten, die in Syrien gegen den Terrorismus kämpfen. In Anwesenheit der Witwen der ersten beiden Toten des Krieges, deren Andenken die über eintausend handverlesenen Zuhörer mit einer Schweigeminute ehrten.
Russland, so Putin dann, habe über zehn Jahre gebraucht, um mit Terroristen und Extremisten im eigenen Land fertig zu werden. Dabei habe es Hunderte Tote gegeben, die nicht vergessen sind. Der Terrorismus stelle jedoch nach wie vor weltweit eine Bedrohung dar. Afghanistan, Irak und Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas würden nach Versuchen, unliebsame Regime zu stürzen, im Chaos versinken. Das habe dem Terrorismus den Weg frei gemacht.
Putin wiederholte damit fast wörtlich, was er schon Ende September zur Begründung des Moskauer Militäreinsatzes in Syrien gesagt hatte. Indes vermied er diesmal direkte Schuldzuweisungen an den Westen für die Folgen der angestrebten Regimewechsel. Beobachter erklären das mit russischen Hoffnungen, eine situationsbedingte Koalition unter Ägide der Vereinten Nationen, werde trotz aller bisherigen Rückschläge dabei doch noch zu Stande kommen. Dafür wirbt Russlands Präsident seit Monaten wirbt. Die Geburt einer anderen Koalition von Staaten mit unterschiedlichem Wertekanon sei ähnlich schwierig verlaufen. Gemeint war das Bündnis gegen Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg.
Parallelen, so auch Putin selbst, seien nicht zu übersehen. So wie damals werde auch jetzt eine Einheitsfront gebraucht. Der Terrorismus könne nur besiegt werden, wenn sich die Finger einer Hand zur Faust ballen. Dabei dürfe es keine Kompromisse geben und keine Kollaboration mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Dessen beschuldigte der Redner allerdings Ankara. Offenbar um sie dafür zu bestrafen, habe Allah die türkische Führung des Verstandes beraubt. Putin meinte damit den Abschuss des russischen Bombers. Die Türkei werde das noch bitter bereuen und dürfe nicht glauben, sie könne sich »mit Tomaten loskaufen«. Gegen diese und andere türkische Agrarerzeugnisse verhängte die russische Regierung inzwischen einen Einfuhrstopp. Verhandlungen über die geplante Gaspipeline von Russland durch das Schwarze Meer in die Türkei seien gestoppt, assistierte Energieminister Alexander Nowak.
Nie zuvor, so Kolumnisten, sei Putin einen Amtskollegen derart scharf angegangen. Was gegenüber westlichen NATO-Mitgliedern offenbar aus taktischen Gründen vermieden werde, habe Recep Tayyip Erdogan als doppelte Ladung abbekommen. Der Kremlchef habe damit auch seine Enttäuschung über das Scheitern einer politischen Kooperation zur gemeinsamen Neuordnung des nach Europa abdriftenden Balkan abreagiert. Putin selbst warf Erdogan sogar »Verrat« vor: Russland sei der Türkei bei Kooperationsangeboten weiter entgegen gekommen als deren eigene Bündnispartner.
Diese Jahresbotschaft, so gleich mehrere Politikwissenschaftler, richte sich nicht nur an die Russen, sondern an die internationale Gemeinschaft. Darin habe Russland durch den Syrieneinsatz einen völlig neuen Status bekommen. In der Tat: Auf Außen- und Sicherheitspolitik gingen Putin als auch Amtsvorgänger Boris Jelzin bisher stets erst zum Schluss und nur mit wenigen Sätzen ein. Zuerst kommen gewöhnlich Innenpolitik, Wirtschaft und Soziales. Themen, auf die sich Putin auch am Donnerstag trotz umgekehrter Reihenfolge konzentrierte.
Der Wahlkampf, sagte er mit Blick auf die Dumawahlen im September 2016, müsse fair sein, Russland brauche eine »legitimierte Macht«. Die Wirtschaftslage bezeichnet er als »schwierig«, aber nicht kritisch. Produktion und Wechselkurse hätten sich stabilisiert, das gelte auch für den Kapitalabfluss. Das sei jedoch kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen.
Die vom Westen wegen der Ukraine-Krise verhängten Sanktionen, so Putin, würden so bald nicht fallen und daher auch nicht das im Gegenzug verhängte Embargo für EU-Lebensmittel. Russland müsse nicht nur seine Bemühungen um Importablösung beschleunigen, sondern Waren herstellen, die auch im Ausland Absatz finden.
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