Marc und die blauen Reiter
Man sollte die Umgebung kennen lernen, in der sie zeitweilig lebten, die Künstler des »Blauen Reiters«. Da liegt der Kochelsee, türkisfarben, auf dem kleine Ausflugsdampfer schaukeln. Herzogstand und Jochberg am Ufer sind gleichsam die Vorgabe für Wassily Kandinskys Ölbild »Kochelsee mit Boot« (1902). Das Wetter wirft rasch um in dieser oberbayerischen Landschaft. Schiebt barocke Wolkengebilde über den Himmel. Oder zieht gebogene, weiße Bänder an dunkelbegrünten Felsen entlang - bis in Franz Marcs Gemälde »Rote Rehe II« (1912) hinein. Steigt man die Hänge aufwärts, belohnt der Fernblick. Nach Norden dehnen sich Moore und kleine Seen. Und unter den Füßen buntblumige Wiesen. Auf ihnen drapiert Gabriele Münter in ihrem Bild »Jawlensky und Werefkin« (1908/09) die Malerfreunde während eines gemeinsamen Ausflugs.
Etwa fünfzehn Kilometer trennen Kochel und Murnau. Die magischen Eckpunkte eines ungewöhnlich farben- und formenreichen Gebietes der Voralpen. Wie geschaffen für die »Blauen-Reiters-Leute« und ihre ähnlich gesinnten Künstlerkollegen. »Und dieses Murnau!« - Franz Marc an August Macke - »Wenn ich weiter schriebe, käme ich in's Schwärmen.« Von Murnau, wo er mit Gabriele Münter das »Russenhaus« bewohnte, kam Kandinsky herüber und fand bei Marcs Bildern und der Musik seiner Frau »wunderbare Stunden«. »Marc arbeitete auch im Winter auf dem Speicher seines Bauernhauses ... Der Schnee bedeckte die Felder, die Berge, die Wälder ... Oben auf dem niedren Speicher stand "Der Turm der blauen Pferde" auf der Staffelei ...«
Das Bild ist verschollen. Der Maler gefallen. Er starb, 36-jährig, am 4. März 1916 bei Verdun. Man begrub ihn im Schlosspark von Gussainville. Ein Jahr später ließ ihn Maria Marc nach Kochel überführen. Unweit der Mauer finde ich das Grab. Der schlichte Stein trägt nur die Namen des Ehepaars Marc. Darauf ein schmiedeeisernes Kreuz mit kleinen goldschimmernden Rosen und Sonnenrädern. Die Erde glänzt dunkel von einer Regennacht. - Else Lasker-Schülers Nachruf auf den Freund Franz Marc geht mir durch den Sinn: »Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten. Er war der, welcher die Tiere noch reden hörte; und er verklärte ihre unverstandenen Seelen ...«
»Der blaue Reiter Franz Marc«, wie die Dichterin ihren poetischen Maler gern nannte, erhielt 1986 in Kochel sein Museum. Es liegt an einem bewaldeten Hügel und zeigt auf kleinem Raum die große Spannweite des Marcschen Kunstschaffens. Eine Intimschau. Sie gewährt dem Maler die Mitte, versammelt jedoch um ihn die Künstler des »Blauen Reiters«. Diese kurzlebige, aus der »Neuen Künstlervereinigung München« hervorgegangene Gruppe, die avantgardistisch und mit Eilschritten den Weg der modernen Kunst beschreitet. Die Wegstrecken sind markiert: Vom Abbild zum Sinnbild, zur Abstraktion.
Wassily Kandinsky (1866-1944), der Ideengeber, bekennt: Das »Geistige in der Kunst« wird wichtig; die eigene Gefühlswelt soll ihren Ausdruck finden; die naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit tritt zurück. Es gilt, »die bisherigen Grenzen des künstlerischen Ausdrucksvermögens zu erweitern«. Weggenosse wird der Maler von nebenan. Kandinsky: »Und da kam Franz Marc aus Sindelsdorf. Eine Unterredung genügte: Wir verstanden uns vollkommen.« Ein Almanach sollte erscheinen, der Auskunft gibt über das moderne Kunstgeschehen, versehen mit Reproduktionen, Meinungen, Ausblicken auf Künftiges. Marc und er, schlug Kandinsky vor, müssten die Redaktion übernehmen. - »Den Namen "Der Blaue Reiter" erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf; beide liebten wir Blau, Marc - Pferde, ich - Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchenhafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser.«
So ist das Franz Marc Museum letztlich doch das Haus des »Blauen Reiters«. Marc führt die Reihe an. Mit Gemälden und Aquarellen, Lithographien, Holzschnitten und Gouachen und auch mit plastischen Versuchen. Ergänzt durch persönliche Gegenstände aus dem Nachlass, Dokumente und eine ausführliche Darstellung des Lebensganges. Vom jungen Mann, der sich zuerst an der Münchner Philosophischen Fakultät einschrieb, um dann zur Kunstakademie zu wechseln - bis hin zur Verfemung von Werk und Gedankengut durch die Nazis.
Preußische Geheime Staatspolizei an die Galerie Nierendorf, Berlin, 26. Mai 1936: Die vorgesehene Vortragsreihe »über den Maler Franz Marc (wird) verboten«, weil das Thema geeignet sei, die nationalsozialistische Kulturpolitik und damit öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden.
Der Umschwung in Marcs Gestaltungsweise lässt sich von Bild zu Bild, von Stufe zu Stufe verfolgen. Beginnend mit den akribisch-akademisch gemalten »Moorhütten im Dachauer Moos« (1902); hier sucht man den Künstler der gelben Kühe, blauen Katzen oder gar der kämpfenden Formen vergebens. Die kleine Landschaft »Aufsteigender Nebel«, 1903 entstanden, kündet bereits den Wandel an. Brodelnde gedämpfte Farben über stumpfem Grün und dunklen Hängen. Düster und bedrohlich.
Marcs Begegnung mit der französischen Moderne bringt Helligkeit und den großzügigen Strich in seine Kompositionen. Die »Zwei Frauen am Berg« (1906), von denen man weiß, dass sie das kleinformatige »Vorbild« eines großen Gemäldes sind, welches der Maler zerstörte, strahlen in lichten, sommerbunten Tönen.
Tiere tummeln sich, vorwiegend Pferde, auf kleinen Gemälden. Man sieht sie mit anderem Blick, wenn man um Marcs Farbsymbolik weiß: »Blau« - das männliche Prinzip, herb und geistig; »Gelb« - das weibliche Prinzip, sanft, heiter, sinnlich; »Rot« - die Materie.
Marcs Bekanntschafts- und Freundeskreis weitet sich. Der Briefverkehr ist rege. Das Hin und Her von Bildpostkarten führt zu einer reichen Sammlung dieser kleinen Kunstwerke. Paul Klee (1879-1940) sendet Grüße, versehen mit einer heiteren Federzeichnung. Erich Heckel (1883-1970) und Max Pechstein (1881-1955) melden sich postalisch und »illustriert«. Franz Marc (1880-1916) antwortet auf gleiche Weise. Mit Else Lasker-Schüler (1869-1945) entwickelt sich die bekannte bebilderte Korrespondenz der »wunderherrlichen Postkarten«. Auf einer von ihnen schickt Marc der Lyrikerin als Neujahrsgruß den »Turm der blauen Pferde« (aufbewahrt in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, München). Nunmehr einziger farbiger, noch vorhandener Entwurf...
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