Vom Pflegefall zum Globetrotter
Sven Marx fährt mit dem Fahrrad um die Welt und seiner Krankheit davon.
Eigentlich hat er nur das Thema gewechselt. Noch vor sechs Jahren referierte Sven Marx über das Tauchen. Durchtrainiert und reich an Erfahrung erklärte er dem wissbegierigen Publikum das richtige Verhalten unter Wasser. Doch das »Leben im Paradies«, wie er seinen Aufenthalt in Ägypten bezeichnet, ist vorbei. Er hält zwar immer noch Vorträge, aber jetzt steht er selbst im Mittelpunkt. Er erzählt seine eigene Geschichte. Seinen langen Weg vom Pflegefall zum Globetrotter auf dem Fahrrad.
Wahrscheinlich wäre er von allein nie auf die Idee gekommen, damit in die Öffentlichkeit zu gehen. Aber sein Physiotherapeut, der ihn nach seiner komplizierten Operation behandelte, sagte eines Tages diesen Satz zu ihm: »Du kannst doch auch anderen Mut machen.« Sven Marx überlegte nicht lange. Er wurde aktiv. Genauso, wie er es schon immer tat.
Dass er immer noch mit schweren Einschränkungen zu kämpfen hat, ist ihm nicht anzusehen. Wenn er seine Vorträge hält, steht er selbstbewusst im Rampenlicht: Spricht laut und freundlich, duzt die Zuhörer meistens und zieht sie auch mit seiner fröhlichen Art in den Bann. »Schaut mal hier, ganz am Ende der Route 66 bin ich Richtung Chicago gestartet«, sagt er und deutet auf das Foto an der Wand. Das Selfie zeigt ihn strahlend in Santa Monica, im Hintergrund sein Fahrrad. Warum er die 3945 Kilometer lange Strecke praktisch andersherum fuhr, erklärt er so: »Weil ich dadurch gleich zu Beginn den höchsten Punkt der Tour hinter mich brachte.«
Ungefähr zwei Stunden spricht der 48-Jährige über seinen muskelzehrenden Trip. Er erzählt von menschenleeren Straßen, von glühender Hitze und seiner Freude über einen Strauch, der ihm ein bisschen Schatten spendete. Nie wird er die Begegnungen mit dem Tankstellenpächter vergessen, der ihm erlaubte, kostenlos seinen Wasserkanister zu füllen. Er traf auch einen Einbeinigen, der wertvolle Ratschläge für die Begegnung mit Klapperschlangen parat hatte. Doch aus einem besonderen Augenblick schöpft Sven selbst ganz viel Kraft. »Als ich am Grand Canyon stand und auf die atemberaubende Naturkulisse schaute, dachte ich, es funktioniert, ich mache verrückte Sachen und fahre dem Tumor davon«, sagt er leise und lächelt.
Ganz still ist es im Raum, als wenn jeder Zuhörer erst einmal verdauen muss, was er eben hörte. Aber Sven, der Globetrotter, geht ganz offen mit seiner Geschichte um. 2009 wurde bei ihm ein Tumor am Gehirnstamm entdeckt, der nicht ganz entfernt werden konnte. Danach war er zunächst halbseitig gelähmt, musste künstlich beatmet und ernährt werden. »Meiner Frau sagten die Ärzte, ich werde ein Pflegefall bleiben und könne nie mehr reisen.« Aber Sven Marx ließ sich nicht unterkriegen. Auch wenn er heute immer noch alles doppelt sieht, Gleichgewichtsprobleme hat und es ihm deshalb schwer fällt zu laufen. Wer ihn genau beobachtet, dem fällt sein breitbeiniger Gang auf, denn er muss jeden Schritt ausbalancieren.
Glücklicherweise entdeckte er irgendwann das Radfahren für sich. »Balancieren auf dem Rad ist für mich viel einfacher, weil kleine Unebenheiten nicht dazu führen, dass ich ins Stolpern komme«, sagt er. Ganz langsam hat er damit vor fünf Jahren begonnen. Stück für Stück, jeden Tag ein bisschen mehr. Seine erste große Hürde waren sieben Kilometer von seinem Zuhause in Weißensee bis zum Brandenburger Tor. »Von diesem Zeitpunkt an war mir klar, ich schaffe es und werde wieder reisen«, macht er den Zuhörern deutlich. 42 000 Kilometer durch 27 Länder, 17 Hauptstädte und vier Kontinente absolvierte er bislang per Rad.
Auch die zweite lebensbedrohliche Diagnose konnte ihn nicht zurückwerfen. 2011 wurde bei ihm schwarzer Hautkrebs entdeckt und ein Melanom entfernt. Seitdem muss er halbjährlich zur Kontrolle. Doch krank fühlt er sich trotzdem nicht. Außerdem hat er solche »schlechten Gedanken« aus seinem Leben verbannt. »Denn wer ständig in sich hineinhorcht und grübelt, stirbt jeden Tag ein Stück«, ist er überzeugt.
Seine Aufgabe sieht Sven Marx vielmehr darin, mit seinen Vorträgen und seinem Buch, was er gerade schreibt, anderen Mut zu machen. »Es gibt noch so viel zu entdecken in meinem neuen Leben. Und das Schöne, durch die vielen Reisen habe ich keine Zeit mich selbst zu bemitleiden«, betont er. Wenn der Mensch sich neue Ziele setzt, sei eine Art Selbstheilung möglich. Die meisten Frauen und Männer, die zu seinen Vorträgen kommen, stimmen ihm zu. Einige erzählen von ihren eigenen Schicksalsschlägen und empfinden seine Berichte aufmunternd und kraftgebend.
Seinen bislang größten Traum will er 2017 realisieren. Dann begibt sich Sven Marx mit dem Rad auf Weltreise. In eineinhalb Jahren will er die Tour schaffen. Freunde helfen ihm bei der Vorbereitung und auch seine Frau Annett und sein Sohn unterstützen ihn. Schon jetzt steht fest: Wenn er wieder unterwegs ist, will er jeden Abend mit ihr telefonieren. Das war während aller seiner Reisen so.
Ganz wichtig ist ihm sein Engagement für die Diakonische Initiative Direkt und die Aktion Inklusion braucht Aktion. Er sammelt Geld für das erste Projekt und macht mit seinen Touren Werbung für das zweite. Jeder, der seine Vorträge besucht, unterstützt ihn mit dem Eintrittsgeld dabei.
Nächster Vortrag »Die Route 66, der Donkey und ich« am 30.1.2016 in der Brotfabrik, Caligariplatz 1, Berlin, um 15 Uhr. www.sven-globetrotter.com
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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