Zurück in den behüteten Schoß der Familie
Derzeit sorgen drei Weihnachtswerbespots für Aufsehen, die das Gesellschaftsbild hipper Kreativarbeiter offenbaren
»Ich wollte nur kurz anrufen und dir Bescheid geben: Du, wir werden es Weihnachten dieses Jahr wieder nicht schaffen.« Dem Opa, der diese Nachricht seiner Tochter auf dem Anrufbeantworter hört, droht erneut ein einsames Weihnachtsfest. Da fällt ihm ein Trick ein: Alle Verwandten erhalten die Nachricht, er sei verstorben. Sofort eilen sie bestürzt und in Trauerkleidung nach Hause - wo sie auf einen festlich gedeckten Esstisch treffen, den der Opa eigenhändig bestückt hat. »Wie hätte ich euch denn sonst alle zusammenbringen sollen?«, fragt er nur, und alles ist gut.
Als der Lebensmitteleinzelhändler »Edeka« vor zehn Tagen seinen Werbespot mit diesem Plot veröffentlichte, wurde daraus online sofort ein Hit: Fast 38 Millionen Mal wurde das Video bis Dienstagabend bei »Youtube« angeklickt. Was nicht verwundert, denn der durch die bekannte Werbeagentur »Jung von Matt« entwickelte Film erfüllt sämtliche Anforderungen des viralen Marketings: Er erregt Mitleid und appelliert an die bürgerliche Bastion der Familie, weshalb die Leute in Bus und Bahn darüber reden, den Link in den sozialen Netzwerken teilen und ihre Ergriffenheit bei »Twitter« in 140 Zeichen ausdrücken.
Seitdem erschienen zwei weitere Werbefilme, die mit dem Thema Alter entweder zu Herzen rühren oder das Zwerchfell erschüttern sollen. »Pornhub«, ein Online-Portal für pornografische Videos, wirbt zu Weihnachten mit einer Sequenz, in der eine weiße, westliche Mittelklassefamilie zur Bescherung beisammen sitzt. Alle packen Geschenke aus, nur der Opa sitzt traurig in seinem Sessel. Bis sein Enkel schelmisch grinsend aufsteht und ihm einen Gutschein für »Pornhub« überreicht. »Wie verwegen! Wie obszön! Wie erfrischend!«, schallt es da aus dem heterogenen digitalen Äther.
Der jüngste und bislang kitschigste Werbestreich mit betagten Protagonisten hat es am Dienstag nach Deutschland geschafft. Das Boulevardportal »stern.de« berichtete über das Werbevideo des Schweizer Fotobuchunternehmens »Ifolor«. Zu sehen ist darin ein älterer Mann auf einer Parkbank, der demenzbedingt seine große Liebe vergessen hat. Die schenkt ihm ein Fotobuch, und plötzlich erinnert sich der alte Herr wieder an den ersten Tanz der beiden, den das Paar sogleich voller Glück in diesem laubbedeckten, kalten Park wiederholt.
Alle drei Spots sind definitiv Beispiele gelungener PR-Aktionen. Es dabei bewenden zu lassen, griffe aber deutlich zu kurz. Denn die Filme zeigen in komprimierter Form vor allem, wie hippe Kreativarbeiter auf die alternde Gesellschaft blicken. Im Edeka-Film ist die Wohnung des allein lebenden Opas blitzeblank, aus eigener Kraft zaubert er ein Festessen für die ganze Familie, die aufgrund ihres Jetsetlebens nur durch einen makaberen Scherz des Seniors den Wert der Familie wieder zu schätzen lernt.
Abgesehen davon, dass wohl nur ältere Herren mit privater Putzkolonne solch einen Festschmaus im fast schon steril gereinigten Eigenheim veranstalten können, ist ein anderer Aspekt interessanter. Den Machern des Spots um den Mittdreißiger Jens Pfau fällt als Ausweg aus dem freiwilligen, die Erwerbsarbeit zum einzigen Lebenssinn verklärenden Joch offenbar nur das Zurückkriechen in den behüteten Schoß der Familie ein - und die begeisterten Online-Reaktionen vom Freelancer bis zur Öko-Mami demonstrieren, dass die junge Generation vor dem neoliberalen Realismus kapituliert und sich nicht nach Weltveränderung sehnt, sondern nur nach dem Rückzug ins Private.
Dort sollte man dann, so propagiert es der Pornhub-Spot, keine Geheimnisse mehr voreinander haben. Die Pornoleidenschaft des Opas wird während der Bescherung der Familie offenbart, und der Beschenkte ist darüber auch noch glücklich. Wer aus Sicht der jungen Werbeagenturen im transparenten Privatleben welche Aufgabe zu erfüllen hat, das geht wiederum aus dem Fotobuch-Spot hervor. Im konservativen Mitteleuropa sind es zuvorderst die Frauen, denen die Aufgabe der Pflege ihres Lebenspartners zukommt.
Daran soll sich, so will es der Spot, trotz der älter werdenden Gesellschaft auch bitte schön nichts ändern. Denn ist es nicht rührend, wie die Frau ihrem dementen und hilflosen Mann im Park so viel Freude schenkt?
Niemand aus den kreativen Büros wird den kleinen Geschichten diesen konservativen Subtext bewusst eingeschrieben haben. Aber es ist doch bezeichnend , mit welcher Chuzpe hier drei zeitgleich erschienene Werbefilme wollen, dass das Altern nicht etwa eine gesamtgesellschaftliche, sondern eine rein private Aufgabe ist.
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