GEW fordert Abschiebestopp für Familien
Geflüchtete Kinder und Jugendliche sollen in Berlin ohne Angst vor Ausweisung lernen können
Plötzlich tobt der Krieg im Klassenzimmer. »Es gibt Situationen, da fangen die Schüler mitten im Unterricht an, den syrischen Bürgerkrieg nachzuspielen«, sagt Gökhan Akgün. Der koordinierende Erzieher arbeitet mit jungen Flüchtlingen an der Lenau-Grundschule in Kreuzberg. Für die Pädagogen, Sozialarbeiter und Psychologen, die mit den teils traumatisierten geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Berlin zu tun haben, stellen die Geschichten und Bilder der Zerstörung aus dem Krieg ebenfalls eine psychische Belastung dar. Eine Betreuung und Beratung gibt es für die Erzieher laut Akgün indes nicht. Überhaupt stellt die Arbeit in den derzeit rund 639 Willkommensklassen (siehe Kasten) mit ihren Tausenden Schülern die Pädagogen vor enorme Herausforderungen. Es würden darüber hinaus Bildungsmaterialien, Räumlichkeiten und gut ausgebildetes Personal fehlen, zählt Akgün die Sorgen seiner Kollegen auf. Häufig gibt es auch Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit den Eltern der Jugendlichen und Kinder. Am extremsten stellt sich die Lage für die sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dar, die ohne ihre Eltern nach Berlin gekommen sind.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat sich in den vergangenen Wochen intensiv mit der Situation für die rund 20 000 Kinder und Jugendlichen in den sogenannten Willkommensklassen beschäftigt. Herausgekommen ist ein Forderungskatalog mit sechs Sofortmaßnahmen, der am Mittwoch der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. »Nichts behindert Lernen so sehr wie Angst«, erklärte der Vorsitzende der GEW Berlin, Tom Erdmann. Die Bildungsgewerkschaft fordert deshalb an erster Stelle einen »Abschiebestopp für alle Familien mit Kindern und Jugendlichen«, damit diesen eine vernünftige Perspektive geboten wird.
- Die Grundlagen für die Lerngruppen in Kitas und Schulen hat der Senat in einem 52-seitigen Leitfaden festgehalten. Die vor kurzem überarbeitete Broschüre soll die mit dem Zuzug von 20 000 nach Berlin geflüchteten Kindern und Jugendlichen verknüpften Fragen beantworten.
- Parallel zu den Regelklassen wurden die sogenannten Willkommensklassen in den Schulen eingerichtet, um den Flüchtlingskindern ohne Deutschkenntnisse die Sprache zu vermitteln. Normalerweise sollte der Besuch dieser Gruppen für die Schüler nicht länger als ein Jahr gehen. Teilweise soll es auch eine Beschulung im Regelunterricht geben, die Deutschnote kann für zwei Jahre ausgesetzt werden.
- Insgesamt 639 Willkommensklassen mit 6700 Schülern gibt es derzeit. Im Schnitt besuchen zehn Schüler eine Lerngruppe. Von Schule zu Schule und von Bezirk zu Bezirk unterscheiden sich die Klassenfrequenzen. mkr
Weitere Aspekte des Forderungskatalogs der GEW sind die Umsetzung des Rechts auf Bildung ohne Einschränkung, unbefristete Arbeitsplätze für neu eingestellte Kollegen, der schnellstmögliche Neu- und Ausbau von Kitas und Schulen, umfangreiche Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für die eingesetzten Erzieher sowie Planungssicherheit für das kommende Schuljahr. Damit es genug Plätze für die geflüchteten Schüler gibt , die nach einem Jahr von den Willkommens- in reguläre Klassen wechseln, sollen die Schulen Plätze vorhalten. Die GEW spricht lieber von »Sprachlerngruppe«, weil sie den Begriff »Willkommensklasse« für einen »Euphemismus« hält, wie Erdmann sagt, schließlich würden aus diesen Klassen auch Kinder abgeschoben.
In der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) weist man die Kritik der GEW derweil zurück. »Wir haben nur für die Lerngruppen gerade wieder 70 neue Lehrer eingestellt«, sagt die Pressesprecherin für Bildung, Beate Stoffers, dem »nd«. Insgesamt würden nun 701 Lehrkräfte mit den 6700 Kindern und Jugendlichen in Berlin arbeiten. Den Bereich der Sozialarbeiter und Schulpsychologen habe man überdies bereits im vergangenen Sommer mit einem Sonderprogramm von drei Millionen Euro ausgebaut. Dass es von November (575) bis Dezember (639) erneut einen Aufwuchs bei den Lerngruppen gegeben habe, zeige auch, was die Berliner Schulen stemmen, betont Stoffers.
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